Erweiterte Realität: ICH und virtuelles ICH

Ostfriese, Dienstag, 29.08.2017, 22:20 (vor 2434 Tagen)4894 Views

Abseits der derzeitigen Flüchtlings-, Afghanistan- und usw.usf.threads, die ich keineswegs stören möchte, erlaube ich mir, auf einen vor einiger Zeit in der ARD gezeigten m.E. interessanten – natürlich unvollständigen und auch bisweilen ungenauen – Beitrag zur Problematik der 'Virtual reality' hinzuweisen. Vielleicht werden bisherige abstrakte Betrachtungen mit konkreten Bildern etwas mehr verdeutlicht und ausgemalt.

Die Erweiterung der Realitätswahrnehmung – erweiterte Realität – tritt zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit – in der Psychologie, in der globalen Kommunikation und in sozialen 3D-VR Plattformen. Die Interface-Forschungen verlaufen erfolgreich und werden in die Praxis umgesetzt, wie der Beitrag

http://mediathek.daserste.de/Quarks-im-Ersten/Virtual-Reality-Revolution-im-Wohnzimm/Vi...

an einem Beispiel aus der Virtual reality-Plattform Social AltspaceVR zeigt. AltspaceVR ist eine virtuelle Umgebung, in der sich Träger von VR-Brillen zusammenfinden und chatten können. Die soziale VR-App funktioniert mit einer großen Auswahl von VR-Headsets. Ob "even people will overcome their social anxiety", wird sich die Journalistin Eva Wolfanger auch fragen müssen nach den sexuellen Übergriffen auf ihr Avatar – ihr virtuell graphisch stellvertretendes ICH –, die sie bewusstseinsmäßig auf ihr ICH selbst bezieht und empfindet. Diese Erfahrung macht sie wütend und gleichzeitig ärgert sie sich über ihre Hilflosigkeit und Ohnmacht.

Dazu sagt Prof. Thomas Metzinger, der wissenschaftlich die ethischen, kulturellen und sozialen Konsequenzen der Bewusstseinsforschung und ihre Auswirkungen auf das Gehirn und die Psyche untersucht:

"Wenn es einen bestimmten Grad von Identifikation mit dem Avatar gibt, ist er an das Selbstmodell der Benutzerin im Gehirn gekoppelt, so dass man erlebnismäßig sagen würde, dass bin ich und ich selbst bin verletzt worden."

In einem Ethik-Codex für virtuelle Realitäten

http://journal.frontiersin.org/article/10.3389/frobt.2016.00003/full

diskutiert Metzinger die Frage: Sollten im virtuellen Raum die gleichen Regeln gelten wie in der Realität?

"Virtuelle Realität ist ein immersibles Format, d.h., dass wir wirklich erlebnismäßig stärker eintauchen als in alle anderen Medien, die wir vorher entwickelt haben. Wenn das so ist, könnte es sein, dass jeder kritisch auch ethisch relevante Punkt erreicht ist, dass man prinzipiell sagt, hier sollte man nichts tun, was man im sogenannten normalen Leben nicht auch tut."

Schon heute ist die virtuelle Realität kein rechtsfreier Raum – sexuelle Übergriffe im virtuellen Raum sind strafbewehrt. AltspaceVR hat Tools – z. B. einen space button – entwickelt, die verhindern sollen, dass Avatare sich zu nahekommen. Der automatische Armlängen-Abstand kommt ja irgendwie bekannt vor.

Emotionale Nähe im virtuellen Raum fühlt sich echt an. Sind Gegensatzpaare und Relationen zwischen dem physischen und virtuellen ICH überhaupt noch entscheidbar?

Virtuelle und echte Inhalte verschmelzen zu einer vielversprechenden zukünftigen 'Mixed reality' – die natürliche Wahrnehmung eines Nutzers wird mit einer künstlichen (computererzeugten) Wahrnehmung vermischt. Die Aussage: "Es ist nicht mehr weithin bis wir die Bildqualität, die wir vom klassischen zweidimensionalen Video kennen, dass wir die auch in 3D sehen werden." eines Informatikers wird direkt zur Entstehung der 3D-Videotelefonie führen. Oder der Mediensystemwissenschaftler: "Es wäre in ferner Zukunft denkbar, dass sich nur noch virtuelle ICH's miteinander unterhalten womöglich und man gar nicht mehr weiß, ob es eine reale Person ist oder nicht."

Die Menschen – losgelöst von Raum und Zeit – schaffen sich als virtuelle Kopien neue Werte- und Bezugssysteme. Original und Kopie verschmelzen. Das virtuelle ICH befindet sich überall und gleichzeitig nirgends und es gewinnt "ontologischen Vorrang vor dem Sein". … "Die Welt der Simulakra absorbiert den Schein und liquidiert das Reale." Jean Baudrillard, 1994.

Die Welt ist Hyperrealität und Simulation.

Ostfriese

PS: Jean Baudrillard in Cool Memories V, 2005: "Der beste Gag des Irakkrieges: Man habe nicht die Statue Saddams gestürzt, sondern die seines Doppelgängers!"


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