Der drôle de guerre wird bald zu Ende gehen... Was folgt?

Revoluzzer, Dienstag, 04.10.2022, 09:49 (vor 563 Tagen)9364 Views
bearbeitet von Revoluzzer, Dienstag, 04.10.2022, 10:30

Feldzüge zeichnen sich durch die Konzentration aller Feuerkraft in der Zeit und im Raum auf ein Ziel aus: Den Gegner niederzuwerfen. In der Ukraine haben wir das die ersten Tage im Februar gesehen. Nur in diesen ersten Tagen trat die tatsächliche Leistungsfähigkeit der russischen Armee hervor.

Seither herrscht dort ein drôle de guerre, der mich an die Situation zwischen Okt. 1939 und Mai 1940 erinnert - nach dem Polen- und vor dem Frankreichfeldzug.

Die taktischen Spielereien der Ukraine / NATO und Russlands seitdem sind nur Geplänkel. Es ist für mich völlig klar, dass, um mich an die Worte Putins anzulehnen, die Russen nach den ersten Tagen nicht mehr Krieg führen, sondern nur eine "spezielle Operation". Auch hier die Parallele zur Wehrmacht / den Westallierten im Winter und Frühjahr 39/40. Man kämpft, aber führt keinen Feldzug - NATO / Ukraine weil sie vermutlich im relevanten Raum nicht mehr Feuerkraft aufbieten können, Russland weil es den eigenen strategischen Vorgaben nicht entspricht.

Diese Zeit geht jetzt zu Ende. Russland hat jetzt, was es vorher nicht hatte, juristisch sowohl durch die Eingliederung der früheren Ukraine-Provinzen als auch durch den US-Angriff auf NordStream vollwertige Kriegsgründe. Die "spezielle Militäroperation" kann nun legitim in einen förmlichen Krieg übergehen. Logistisch, moralisch und materialseitig sehen wir eine Teil- in einigen Aspekten sogar eine Generalmobilmachung in Russland. Diese kann jederzeit in eine volle Generalmobilmachung übergehen. China, Indien und viele andere Staaten helfen Russland bzw. verweigern dem Westen die Gefolgschaft.

Juristisch, sachlich und außenpolitisch ist das Feld damit bereitet (auch hier wieder interessant an die Parallelen zu 1940/41 zu denken).

Zugleich zeigt der Angriff der USA auf NordStream, dass es keine Friedenslösung geben wird - nicht jetzt und nicht in absehbarer Zeit - allenfalls nach der Niederwerfung der Ukraine wird es dafür ein kurzes Zeitfenster geben, aber auch dieses wird wohl nicht genutzt werden.

Innerhalb von 1 bis 5 Monaten wird Russland einen Feldzug durchführen. Dessen Mindestziel wird die Niederwerfung der Ukraine sein. Dieser Feldzug wird die tatsächliche Leistungsfähigkeit der russischen Armee zeigen. Ich erwarte, dass in einer / wenigen Wochen in der Ukraine alles entschieden ist. Der bisherige drôle de guerre ist kein Maßstab.

Das Problem - unser Problem - ist, dass damit der Krieg nicht zu Ende ist. Russland und die USA stehen im Krieg. Genauso wenig wie Großbritannien 1940 werden die USA keinen Frieden schließen. Der Unterschied liegt gleichwohl darin, dass 1. die USA keine zweite USA im Rücken haben wie damals GB und Putin kein verblendeter Spinner wie Hitler ist. Eher ist Russland in der Rolle von damals GB, auch im Sinne des besseren moralischen Standpunktes, mit China im Rücken - das womöglich (Geschichte, die sich reimt) wie die USA 1945 als eigentlicher Gewinner aus dem Krieg hervorgehen wird.

Militärisch müsste ein mobilisiertes Russland - auch hier im übrigen die Parallele zu 1940 und dem 'Fehler' Hitlers aus Sentimentalität die Engländer aus Dünkirchen abziehen zu lassen und keine Invasion der britischen Inseln zu versuchen - schnellstens bis nach Brüssel (Paris?) durchziehen und damit die NATO in Europa niederwerfen: Der Krieg wäre entschieden. Die strategische Abschreckung wird eine weitere Eskalation vermeiden. In Europa würden 'nur' taktische Atomwaffen zum Einsatz kommen.

Strategisch wäre das nur dann nicht richtig, wenn Russland durch einen Sitzkrieg an der Grenze von Polen zur heutigen Ukraine durch größere Ressourcenstabilität gewinnen kann - sprich, dass die NATO innerlich vor Russland zusammenbricht. Das ist möglich, aber die Erfolgsaussichten aus russischer Sicht erscheinen unsicherer, als wenn man das Momentum ausnutzt und direkt bis Brüssel durchzieht. Auch dürften die Kosten und Verluste eines langen Krieges vermutlich höher sein.

Was könnte diese Entwicklung verhindern?

Ein Kompromiss, Frieden, wohl leider nicht. Die Hemmung vor dem Einsatz von Atomwaffen? Vielleicht, aber es ist bemerkenswert, wie von beiden Seiten diese Hemmschwelle in den letzten Monaten heruntergeredet und durch die Kündigung von Rüstungskontrollabkommen seit Jahren juristisch erleichtert wurde. Beide Seiten scheinen den Einsatz von taktischen Atomwaffen ermöglichen zu wollen - und sei es nur als Handlungsoption.

Eine Chance für Deutschland sehe ich nur darin, dass der Krieg zwischen USA und Russland zeitnah eine andere Arena findet, die dann die Mittel bindet (Syrien, Iran, Israel, Taiwan...). Wobei es scheint, dass der Aufmarsch Russlands bzgl. Ukraine (Westeuropa?) bereits angelaufen ist. Auch ist nicht klar, dass ein Krieg um, sagen wir z.B. Israel, tatsächlich zu einer wesentlichen Truppenverlegung führt.

Aber wie heißt es so schön: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass es anders und besser kommt.

Revo.


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