Hallo werter Oblomow,

die Pfiffi-Küsse sind für den Zirkus und sollen das wahre Geschehen verbergen. Letzteres hat allerdings mehrere Aspekte, und insofern - hier wieder Philosophie - gibt es vollständige und unvollständige Wahrheiten: die vollständige Wahrheit entgeht uns ...

Der folgende Aspekt zumindest ist wahr: die AfD ist eine Partei des Systems und übt den Anlauf in Richtung Kooperation mit den Systemparteien schon seit einiger Zeit im Hintergrund, auch auf Bundesebene (etwa in den Verhandlungen der Ausschüsse, für die sich der Bürger noch weniger interessiert als für das Geschehen im Plenum). Als ein Beispiel führe ich hier an:

https://netzpolitik.org/2019/cum-ex-ausnahme-von-informationsfreiheit-bleibt/

(AfD stimmt mit den anderen Parteien gegen Transparenz und stützt damit den Staatsapparat; sie hätte sich auch enthalten oder dagegen stimmen können).

Ein zweiter Aspekt, der ebenfalls wahr ist: es gibt ungeschriebene Regeln der Demokratie, die heute wieder einmal gebrochen wurden. Ich schreibe das nicht, um eine Diskussion über Demokratie zu beginnen, sondern nur um die Wahrhaftigkeit ihrer angeblichen Akteure zu beleuchten. Wer immer sich zur Demokratie bekennt - und das tut die AfD bei jeder Gelegenheit -, der sollte auch ihre ungeschriebenen Regeln beachten. Ich weise immer wieder darauf hin, dass Gesetze ohne vorhergehende 'gute Sitte' nichts wert sind bzw. dass allgemein etablierte gute Sitten Gesetze weitgehend überflüssig machen.

Es gehört eben zu den ungeschriebenen Regeln der Demokratie, dass man den Kandidaten einer 5-Prozent-Fraktion nicht zum Ministerpräsidenten macht. Insofern hat also die Pfiffikus-Partei zwar heute einen Kracher gelandet. Doch der zeigt ihr wahres Gesicht: ich scheixxx, wenn es mir was bringt, auf die Demokratie. Mit einem derartigen Signal macht die AfD sich nicht nur gemein mit den übrigen Systemparteien sondern sie outet sich auch positiv für jene Hintertanen, die politische Parteien sich kaufen ...

Die Feststellung trüber Wahrheiten mögen wieder ausgeglichen mit etwas positiver Philosophie:

Allen gemeinsam ist das Vermögen, Einsicht zu haben (B113)
Alle Menschen haben Anteil an der Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und vernünftig zu sein (B116)

Vernüftiges Erkennen, als Voraussetzung für ein schrittweise zunehmendes Erkennen der Wahrheit, basiert bereits bei Heraklit, wenn ich es richtig verstehe, auf einer Teilhabe der menschlichen Seele am 'göttlichen' LOGOS als der 'vernüftigen' Struktur des Kosmos. Vermutlich ist der LOGOS bei Heraklit dynamisch, mithin nur in der und über die Zeit hinweg verwirklichbar und erkennbar. Zeit heißt Veränderung und 'Werden', im Unterschied zum parmenidischen bzw. platonischen 'Sein': man steigt nicht zwei Male in den gleichen Fluss.

Der Seele Grenzen kannst du nicht entdecken gehn, selbst wenn du jeden Weg abschreitest: so tief ist der LOGOS, den sie hat (B45)
Der Seele ist ein LOGOS eigen, der sich selbst mehrt. (B115)

Ich habe auch bei Heraklit keine Antwort darauf gefunden, warum der Mensch anfällig ist für schlechte Gewohnheiten und falsche Entscheidungen.

Mit abendfriedlichen Grüßen,

Weiner