2 dominante Faktoren: Der Exodus der Sammler & Jäger, und ein Politiker, der sein Wahlversprechen hielt
Hi Plancius,
Da ich das Land auch ganz gut kenne, hier ein paar Hinweise meinerseits:
Ein jeder, der vor 1990 durch Rumänien gefahren ist, konnte mit eigenen Augen sehen, dass es das ärmste Land Europas war. Wir DDR-Touristen, die seinerzeit mit dem Pkw nach Bulgarien ans Schwarze Meer unterwegs waren, haben uns an der ungarisch-rumänischen Grenze in Konvois zu ca. 5 Fahrzeugen zusammen geschlossen, um Rumänien gemeinsam zu durchfahren. Im Konvoi fühlten wir uns sicherer, durch dieses bettelarme Land zu fahren. Hielt man an, war man von bettelnden Kindern und Frauen umringt, auf den Straßen waren besoffene Zigeuner unterwegs, hat man an der Grenze nicht Außenspiegel und Wischblätter abmontiert, so wurden sie einem an der erstbesten roten Ampel in Oradea oder Arad vom Auto gerissen.
Eine sehr amusante Anekdote. Vielen Dank dafür. Den entscheidenden Faktor hast du allerdings schon selbst benannt.
Nach der Wende ging es nun mit Bulgarien steil bergab, das Land hat sich seitdem nicht mehr so richtig erholt. Stattdessen wurde Rumänien der bis zum heutigen Tage heimliche Shootigstar Europas.
Die Städte erstrahlen mit ihren herrlichen KuK-Bürgerhäusern in hellstem Glanz. Städte wie Timisoara, Sibiu, Sigishoara, Alba Iulia, Brasov und viele kleinere Städte und Dörfer Siebenbürgens sind eine reine Augenweide. Die Städte sind gepflegt mit vielen Grünanlagen, Parks oder auch von Kanälen durchzogen (Timisoara). Die Stadtarchitekten haben professionelle Arbeit geleistet, vieles ist mit Liebe zum Detail hergestellt und wird insbesondere auch nach Rekonstruktion erhalten und gepflegt.
In Rumänien gibt es zwei Bevölkerungsgruppen. Da gibt es zum einen die oben genannte Gruppe mit ihrer Sammler- und Jäger-Mentalität, welche kulturell nie die neolithische Revolution durchgemacht hat.
Und dann gibt es die Rumänen. In den von dir genannten Gebieten sind die Rumänen kulturell durch die deutsche oder ungarische Kultur stark geprägt worden. Das macht sich insbesondere im sorgfältigen Umgang mit dem eigenen Eigentum bemerkbar. Darüber hinaus sind die Rumänen durchgehend nach heutigem westlichen Standard von sehr konservativen Werten geprägt.
Jetzt zu meiner eigentlichen Frage: Wie konnte ein solches hochkorruptes „Zigeunerland“ wie Rumänien einen doch so großen Sprung in Richtung Zivilisation machen und dabei Ostdeutschland vergleichsweise auf die hinteren Plätze verweisen?
An genau dem Tag, an dem Rumänien der EU beitrat, war es kein „Zigeunerland“ mehr. Wie von einem großen Vakuum wurde diese Personengruppe, sofern sie in den klassisch angestammten Beschäftigungsfeldern tätig war, nahezu vollständig von der EU angezogen, um auf grüneren Wiesen ihren Besorgungen nachzugehen. Dazu kam, dass in Rumänien bereits kleine Vergehen, wie zum Beispiel das Stehlen von Lebensmitteleinkäufen, durchaus eine Haftstrafe nach sich ziehen können. Und ganz sicher wird niemand in Rumänien für einen Einbruchsdiebstahl mit einer Ermahnung davon kommen, so wie das in Deutschland der Fall ist. Es könnte für diese Personenkreise daher als rationale Entscheidung erscheinen, Tätigkeiten, die in Rumänien streng geahndet werden, eher in Ländern mit einer als nachsichtiger empfundenen Rechtsprechung auszuüben. Die so erzielten Einkünfte können dann, ähnlich dem Vorgehen von anderen Expats oder Arbeitsmigranten, in Rumänien investiert und während Aufenthalten in der Heimat genossen werden.
Der entscheidende Faktor war aber die Regierung Tariceanu, die 2004 an die Macht kam. Bis dahin sah es in Rumänien nicht viel anders aus als in Bulgarien, von einer dynamischen Entwicklung konnte keine Rede sein.
Zu Calin Popescu-Tariceanus zentralen Wahlversprechen zählte die Einführung einer Einheitssteuer (Flat Tax) von 16 Prozent, sowohl für die Körperschaft- als auch für die Einkommensteuer. Ausgeschüttete Dividenden sowie bestimmte andere wirtschaftlich relevante Einkunftsarten sollten sogar noch niedriger besteuert werden.
Bereits am Abend seiner Amtseinführung (!) verkündete Tăriceanu in einer Fernsehansprache dem verduzten Publikum, dass er sein zentrales Wahlversprechen noch am selben Tag per Notverordnung umgesetzt habe, seine demokratische Bringschuld damit abgetragen habe und die Flat Tax in Rumänien somit ab sofort in Kraft getreten sei. (Notverordnung 29.12.2004 / Publikation 30.12 / Inkrafttreten 1.1.2005)
Dieser Schritt markierte einen klaren Wendepunkt, der Unternehmergeist und Eigeninitiative in Rumänien freisetzte.
Die Flat Tax ist bis heute gültig.
Diese Regierung führte im übrigen auch ein modernes Bankengesetz ein und ermöglichte dadurch zb. erst die geregelte Vergabe von Hypothekarkrediten und Konsumentenkrediten. Im DGF muss man sicherlich niemandem erklären, was das für die wirtschaftliche Entwicklung und die Immobilienwirtschaft bedeutete.
Ja ich weiß, es gibt EU-Fördermittel, die wurden auch über Ostdeutschland ausgeschüttet. Deutschland hat trotz der ganzen Verschwendungen eine wesentlich höhere Steuerkraft als Rumänien und insbesondere hätte ich erwartet, dass in Rumänien der größte Teil der Steuer- und EU-Gelder in der Korruption versickert.
Das war auch lange so der Fall, aber inzwischen werden EU-Standards auch in der Vergabe von Fördermitteln und deren Nachverfolgung zunehmend umgesetzt.
Bei der Bewertung der Korruption in Rumänien und anderen südosteuropäischen Staaten unterliegen Beobachter aus Deutschland jedoch häufig einem Wahrnehmungsfehler hinsichtlich der Dimensionen. Zwar existiert Korruption zweifellos, doch die betreffenden Summen bleiben im internationalen Vergleich meist gering. Andererseits können selbst die reduzierten Mittel - auch nach Abzug korruptionsbedingter Verluste - oftmals tatsächlich ihren Investitionszweck erreichen.
In Deutschland hingegen scheinen sich die Verhältnisse mitunter umgekehrt darzustellen. Hier geht es bei öffentlichen Investitionen oft um enorme Summen, während Projekte trotz ausgeschütteter Mittel häufig nicht zum Abschluss gebracht werden können. Ein unvoreingenommener Beobachter könnte daraus schließen, dass die realen Verluste durch intransparente oder ineffiziente Mittelverwendung in Deutschland letztlich höher sein könnten als die durch Korruption im engeren Sinne verursachten Verluste in Rumänien.
Und noch eine ganz wichtige Tatsache: Wo kommt all die Liebe zum Detail, der Anmut her, die Städte so lebenswert mit ihren Grünanlagen zu machen und vor allem auch alles dauerhaft zu pflegen? Sind Rumänen in Deutschland wohnhaft, so hinterlassen sie nur Müll, Unordnung und Unrat.
Du beobachtest hier zwei unterschiedliche Gruppen von "Rumänen", s.o.
Wie kann es sein, dass die von allen Europäern gering geschätzte rumänische (korrupte) Mentalität die finanziellen Mittel letzten Endes doch effektiver einsetzen? Ich ging immer davon aus, dass die Deutschen mit ihrem Sinn für Ordnung, ihre Liebe zum Detail besessen sind, aber stattdessen sind sie einem Billigwahn verfallen und lassen ihre Städte zu lebensfeindlichen, lieblosen Wohnwüsten verkommen. Wo sind die einstmals preußischen Tugenden geblieben?
Sie sind überwuchert. Mit Papier. Mit Paragraphen.
Diese kafkaeske Maschine mit 17 Unterschriften und keiner Verantwortung,
hat nicht nur die Tugenden verschüttet,
sie hat sie in ihr Gegenteil verkehrt.
Pflicht wurde Bürokratie.
Ordnung wurde Kontrolle.
Verantwortung wurde Zuständigkeit.
Und Zuständigkeit heißt: Niemand.
Man füllt Formulare aus,
die niemand liest,
um Prozesse einzuhalten,
die niemand versteht,
damit nichts schiefläuft,
während alles schiefsteht.
(meint jedenfalls ChatGPT, in memoriam F. Nietzsche, zu dieser Frage)
Jeder einzelne dieser 17 Unterzeichner hat jedoch die Hand aufgehalten und lebt davon, Dinge zu untersuchen, zu bewerten, zu begutachten, zu genehmigen oder abzulehnen.
In Rumänien braucht es da nur 3-4.
Wo ist nun die Korruption wohl grösser?
Gruss,
mp