Wenn es in Deutschland bundesweit Volksabstimmungen gäbe wie in der Schweiz

Weiner, Mittwoch, 01.01.2020, 15:42 (vor 1579 Tagen)3312 Views

Guten Tag!

Mich beschäftigt die folgende Frage: welche Themen würden die Bürger in diesem hypothetischen Fall interessieren, welche Sachfragen würden sie öffentlich angemessen diskutieren wollen, und für welche Entscheidungen würden sie ihre Unterschrift geben (erst beim Antrag mit Quorum) und schließlich zum Wahllokal gehen (später für das eigentliche Referendum)?

Wir haben bekanntlich in Deutschland Volksinitiativen und Referenden nur auf kommunaler Ebene sowie auf Länderebene. Bundesweite Volksabstimmungen gibt es nicht. Nehmen wir nun einmal an, dass diese eingeführt und gesetzlich geregelt würden – weil zum Beispiel wider Erwarten die AfD als dazu berechtigte Fraktion einen entsprechenden Gesetzentwurf einreicht, der wider Erwarten von ausreichend Abgeordneten der anderen Parteien unterstützt wird (Zwei-Drittel-Mehrheit wegen damit verbundener Grundgesetzänderung).

Welche Themen könnten und sollten dann für Volksabstimmungen aufgegriffen werden. Was hätte hohe Priorität in der öffentlichen Meinung, was wäre praktisch umsetzbar im Sinne von denkbaren bzw. erreichbaren Mehrheiten?

Ich würde mich über ernsthafte Vorschläge hier im Forum freuen, wenn möglich mit ein paar Argumenten und mit Hinweisen zur Ausgestaltung, denn derartige Initiativen müssen ja begründet werden und sollten in einen Gesetzentwurf münden.

Ich versuche mal selbst ein paar Beispiele, damit verständlich wird, was ich meine.

1 - Die Bundeswehr ist in diversen Auslandseinsätzen engagiert, die eine Menge Geld kosten und deren außenpolitischer Wert sehr fraglich ist. Ich vermute nun mal, dass bei einer Volksabstimmung sich eine Mehrheit finden würde, die bestehenden Auslandseinsätze komplett zu beenden. Es steht auf einem anderen Papier, ob die Bundeswehr vielleicht eine neue Struktur, einen neuen und zeitgemäßen Auftrag bräuchte. Letztere Themen wären für eine Volksabstimmung aber zu komplizierte Sachverhalte. Die Beendigung der sinnlosen Auslandseinsätze könnte aber eine Diskussion auch über derartig weitergehende Fragen anstoßen. Waffenexport wäre ein Themenbereich, der ebenfalls hierher gehörte. Und die Wehrpflicht.

2 - Die Sanktionen gegen Russland werden ganz sicher nicht von einer Mehrheit der deutschen Bürger und Unternehmen getragen. Allerdings sind diese Sanktionen keine rein deutsche Angelegenheit. Sie wurden vom Rat der EU verordnet und könnten rein rechtlich nur über eine EU-Petition rückgängig gemacht werden. Wenn es aber zu den Russlandsanktionen eine Volksabstimmung in Deutschland gäbe, die ein entsprechendes Mandat (via einer Verpflichtung der Bundesregierung) für den Rat der EU und für die EU-Kommission stützte, dann müsste sich eine Änderung erreichen lassen. Hier kann man auf basisdemokratischer Ebene eventuell weitere Länder mit einbinden (via EU-Referendum in mehreren EU-Staaten gleichzeitig). Eine Abstimmung, auch wenn sie zunächst unsicher scheint, baut immer einen starken öffentlichen Druck auf. Sie ist gewissermaßen bereits in den Anfängen (bei der Unterschriftensammlung) eine verbindliche Umfrage. Eine positive Zustimmung der deutschen Bürger per Referendum, die Russlandsanktionen einzustellen, hätte ganz sicher weltpolitische Wirkung.

3 - Der eigentliche Gegner des Bürgers und der Konsumenten ist heute nicht der Staat (wie von vielen, auch hier auf dem Forum, vermutet) sondern das internationale Finanzkapital. Letzteres steuert die Staatsorgane über Lobbyarbeit – und diese Lobbyarbeit geht an den wahren Interessen der Staatsbürger dann naturgemäß vorbei. Hier kann man versuchen einzugreifen, anfänglich etwa durch ein Lobbyregister sowie durch weitere Maßnahmen, die Transparenz erzwingen könnten. Ich denke, dass auch auf diesem Felde eine unterstützende Mehrheit der Bürger zu gewinnen wäre. Es gibt etliche Organisationen, die hier an Gesetzentwürfen oder zumindest an umsetzbaren Vorschlägen arbeiten (etwa in Deutschland die Plattform www.abgeordnetenwatch.de des Vereins „Parlamentwatch e.V.“) . Ganz allgemein gehört der Bereich Korruption ebenfalls hierher. Ich könnte zum Thema Finanzkapital ein Dutzend weitere Vorschläge machen ...

4 - In der Politik kann über Wahlverfahren eine Menge diskret geregelt werden - nicht vom wählenden Bürger, jedoch von den organisierenden Parteien. Das deutsche System mit zwei Listen macht Probleme und ist zum Vorteil der Parteien (Ausgleichs- und Überhangmandate, Kumulieren, Panaschieren etc.). Es gibt Vorschläge für eine Wahlrechtsreform, aber das Thema ist natürlich sehr kompliziert und streitig. Allein schon die „Gewissensfreiheit“ der Abgeordneten ist ein Problem (ich bin ein Anhänger des 'imperativen Mandats'). Vielleicht ist die Thematik nicht geeignet für eine Volksabstimmung, aber es gibt auch hier viele vernünftige Vorschläge, die sich bündeln und allgemeinverständlich darstellen ließen (siehe etwa www.wahlrefom.de oder http://www.wahlrecht.de). Die Parteienfinanzierung und die Honorierung von Abgeordneten gehört auch in diesen Bereich mit herein.

5 – Die GEZ ist ein extrem wichtigstes Thema. Es kompliziert sich dadurch, dass der Hebel auf Landesebene liegt (Rundfunkstaatsvertrag). Eigentlich müsste man für Änderungen hier mehrere Volksinitiativen in den einzelnen Bundesländern gleichzeitig starten, aber es gibt auch Zugänge via Bundesebene, damit der Bürger auf Finanzierung, Struktur und Inhalt des „Öffentlich Rechtlichen Rundfunks“ wieder Einfluss bekommt und nicht der „Gleichschaltung“ weiter ausgesetzt bleibt. Mit einer Volksabstimmung darüber, dass die Finanzierung der GEZ gedeckelt wird - bei Mieten ist das ja auch möglich -, würde man vielleicht einen Einstieg in diese schwierige Materie finden können.

6 - Hier würde ich gern etwas zum Geldsystem sagen, jedoch traue ich mich nicht, weil ich befürchte, dass dann sofort Diskussionen um grundsätzliche, weltanschauliche und rein theoretische Fragen entstehen, während es mir lediglich um praktisch verwirklichbare Ansätze geht, damit wenigstens die allergröbsten Mißstände im Bereich des Geldsystems abgeschafft oder wenigstens in ihrem Ausmaß quantitativ reduziert werden könnten. Vielleicht hat ja jemand eine interessante Idee!? Kompliziert wiederum ist dieser Bereich dadurch, dass er eigentlich auf EU-Ebene reguliert werden muss. In der Schweiz gab es bekanntlich ein Referendum zum Thema Vollgeld. Es sind hier die Grenzen und die Manipulation auch von Volksinitiativen und -referenden sichtbar geworden.

7 – Noch einmal zurück zum Militär: ich bin mir nicht sicher, ob man eine bürgerliche Mehrheit finden würde, die Anwesenheit fremder Truppen auf deutschem Boden zu beendigen. Völkerrechtlich gesehen ginge das relativ einfach über das Truppenaufenthaltsgesetz (Verträge sind kündbar mit einer Frist von 2 Jahren). Aber ich halte es ersatzweise für denkbar und für ein Signal in die richtige Richtung ..., dass man in Bezug auf die Entfernung von Atomwaffen bundesweit einen Konsens finden könnte. Es wundert ein wenig, dass eine Allergie gegen Atomwaffen auf deutschem Boden bislang bei weitem nicht so massiv ist wie die allgemeine Allergie Atomkraftwerke …

Ich habe mit den vorstehenden Ausführungen ein paar Hinweise gegeben, was mir im Kopf umgeht. Ich würde mich über weitere Vorschläge und Ideen zu Volksabstimmungen freuen. Ich bitte aber, die praktische Durchführbarkeit und die Aussicht auf mehrheitliche Zustimmung im Auge zu behalten. Konfliktthemen, die die Gesellschaft noch mehr spalten würden, bringen in diesem politischen Bereich, wo etwas Neues erst entwickelt und erlernt werden muss, nicht wirklich weiter. Vielmehr würden sie die Einführung eines solchen neuen politischen Instrumentes wohl eher stören oder gar sabotieren.

Ich wünsche allen Mitleserinnen ein gesundes und gutes Neues Jahr!

Weiner


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