"Stadtluft macht frei" stammt aus dem Mittelalter und umschreibt einen Rechtsgrundsatz,

reefan, Ungarn, Montag, 24.10.2022, 02:00 (vor 577 Tagen) @ Olivia2025 Views
bearbeitet von reefan, Montag, 24.10.2022, 02:51

nach dem ein entlaufener Leibeigener nach "Jahr und Tag", d. h. nach einer Frist von einem Jahr und einem Tag seine Freiheit erlangte. Da sich in den damaligen Städten die Spur der Leibeigenen verlor und diese kaum von den Grundherren gefunden werden konnten, flohen Leibeigene vorzugsweise in die Städte, um sich für mindestens ein Jahr dort zu verstecken. Arbeit fanden sie dort leicht um überleben zu können. Deshalb der Spruch "Stadtluft macht frei".


Weil es so interessant ist, ein kleiner Ausflug in unsere Rechtsgeschichte:
Der Begriff "Jahr und Tag" bezeichnete eine weit verbreitete Frist im damaligen Geschworenen-Rechtssystem des Hochmittelalters. So musste sich ein Angeklagter binnen Jahr und Tag vor dem Obergericht in Westfalen nach alter germanischer Sitte als freier, waffentragender Bürger einfinden und gegen die erhobenen Vorwürfe verteidigen. Dort wurden die schweren Vergehen verhandelt, deshalb gab es als Urteil nur Tod oder Freispruch. Bei Nichterscheinen bis zur Mittagszeit nach Ablauf der Frist wurde der Angeklagte vom Geschworenengericht ausnahmslos zum Tod verurteilt und danach durch Geschworene landesweit gesucht und "nachgerichtet", d. h. hingerichtet durch Erhängen, wobei das Gerichtsurteil mit einem Messer neben dem Delinquenten am Baum befestigt wurde zum Zeichen, dass es sich um eine offizielle Urteilsvollstreckung handelte.

Dieses "nachrichten", also die nachträgliche Hinrichtung, ist übrigens der Wortstamm unserer täglichen "Nachrichten". Hierbei boten Städte keinerlei Schutz vor der Strafe, da im ganzen Land, von Nord- und Ostsee bis zu den Alpen Tausende - und damit auch in jeder Stadt - sowohl öffentlich bekannte (zur Entgegennahmen von Beschwerden und Anklagen), als auch geheime und der Bevölkerung und sogar lokalen Herrschern(!) vollkommen unbekannte Geschworene lebten, die alle zur Hilfe bei der Strafverfolgung verpflichtet waren. Bei geringeren Vergehen waren die "öffentlichen" Geschworenen auch lokal als Richter und Geschworene zur Rechtssprechung sowie zur Festlegung und Markierung von Grenzen mit geheimen Zeichen tätig - der Ursprung der auch noch in unserer Zeit aktiven Feldgeschworenen.

Da schwere Vergehen ausschließlich in Westfalen verhandelt wurden, war dies im großen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation durch die Zentralisierung ein recht aufwendiges, aber sehr gerechtes und dabei hoch effizientes Rechtssystem, was vom deutschen Kaiser mit entsprechenden Vollmachten und Privilegien ausgestattet war. Der Gutsherr, der beste Freund oder auch ein Untergebener konnte ein geheimer Geschworener sein. Illoyalität oder Bruch der Geheimgehaltung durch einen Geschworenen hatte unweigerlich dessen grausamen Tod zur Folge. Die Strafe bei Geheimnisverrat: Herausreißen der Zunge, die dann um den Hals gelegt wurde.

Vor der Vollstreckung des Urteils eines Geschworenengerichts gab es deshalb kein Entkommen, JEDES Urteil wurde vollstreckt - zumindest in der Blütezeit des Hochmittelalters. Im Laufe der Zeit wurde es jedoch immer mehr korrumpiert, und während der Hexenverfolgungen brach es zusammen.

Viele Grüße


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