Leider aus der Zeit gefallen

Bergamr, Donnerstag, 18.11.2021, 20:22 (vor 913 Tagen) @ Oblomow1756 Views

Hallo Oblomow,

(ich wunder mich immer wieder, wie Du Deine Schreibaktivität und die Lethargie der Romanvorlage unter einen Hut kriegst [[top]] )

Du bist sehr belesen und hast immer wieder sehr gute Hinweise auf klassische, schöne Literatur.

Nur in dem Fall greift das nicht, weil es damals leider (sic) noch keine Algorithmen und deshalb auch keine technokratisch-expertiös-versiffte Meinungsführerschaft gab.

Damals war alles individuelle Willkür, von Gottes Gnaden, von (über-)menschlicher Stärke, von hierarchischer Gesetzheit, - Du weißt, was ich meine.

Was kommt (bzw. schon ist bzw. im Entstehen begriffen ist), ist viel unmenschlicher, weil es viel 'neutraler' ist: die Entrechtung des Menschseins aufgrund höherer, weil 'logischerer' Ebenen. Was in demokratischen Massengesellschaften schon lange Konsens ist (Stichwort: alternativlos):

Die Unterordnung unter das Diktat der Mehrheitsmeinung, das durch Medien, Umfragen, 'Nudging', 'Framing', etc. immer so ausfallen wird, daß die Kursbestimmer (wieviele Globalkonzerne bestimmen den Kurs - 143 oder so?) auf der Sonnenseite sind. Diese Unterordnung macht alle zufrieden, glücklich, entsorgt alle von den schwierigen Entscheidungen und läßt alle einigermaßen glücklich weiter im Hamsterrad strampeln. Es wird weder das Hamsterrad in Frage gestellt noch das Prinzip 'Mehrheitsentscheidung = NonPlusUltra' noch - ja, verlängere die Fragestellung selbst: Mensch = Konsument, Sicherheit = Lebensziel, Fortschritt = Evolution, etc. Ich denke, auch hier weißt Du, was ich meine.

Und das ist das Perfide, hinter dem Jeder (nicht nur die Entscheider, die Mächtigen) sich verstecken können: es ist niemand mehr aufgerufen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Allen wird ermöglicht, sich hinter den 'Zwängen' (des Systems, der Umstände, etc.) zu verstecken, sich mit ihnen gemein zu machen und sich dadurch selbst zu täuschen. Ja, es wird eigentlich vorausgesetzt, daß jeder das tut: sich gemein zu machen mit den Widerlichkeiten des alltäglichen Zwangs. Das Opfer ist zugleich der Täter und umgekehrt. Und alles erstickt im systemimmanenten Zwang.

Ich habe diese Entwicklung anfangs in den 2000er Jahren nur aus dem Blickwinkel eines Unternehmers im Einzelhandel beobachtet. Mittlerweile sehe ich das nicht mehr nur als wirtschaftliches, sondern viel mehr als gesellschaftliches, eigentlich soziales Problem.
Beruflich interessiert es mich nicht mehr, da ich den Einzelhandel verabschiedet habe und mich nur noch auf mein Handwerk konzentriere. Aber gesellschaftlich wächst es zu einem Phänomen heran, gegen das nicht mehr rational argumentiert werden kann. Hier werden Tatsachen betoniert, die jeder Vernunft, jedem gesunden Menschenverstand diametral entgegenstehen - und alles jubelt. Empirie und wissenschaftliche (d.h. vernunftbasierte) Herangehensweise wird verunglimpft, verteufelt oder gar als 'unwissenschaftlich' gebrandmarkt. Und alle Erkenntnis wird ersetzt durch (willfährige) Statistik, (ergebnisprogrammierte) KI und (alternativlose) Propaganda in den von allen willkommen-geheißenen (Sozialen) Medien. Die Massengesellschaft hat gewonnen.

Fragt sich nur, was.

(Ich könnt jetzt noch lang und viel schreiben, aber als alter Opa denk ich jetzt ans Schlafen und hör auf)

Nichts für ungut, ich lese Deine schönen Literaturhinweise trotzdem gern.

Gruß
Bergamr

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Ehrlich schade für die Heimat! Endgültig verloren seit Sommer 2015 ...


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