Guten Abend Kaladhor -

und vielen Dank für Deinen Einwurf zum Thema "Zeit haben"! Es geht hier um die wichtigste Frage der Gegenwart auf dem Felde der Politik: wie können diejenigen, die die Politik tragen (finanziell), von ihr profitieren oder sie erleiden (siehe Syrien), sie auch mitbestimmen?

Könnten die folgenden Menschengruppen vielleicht Zeit für ein Engagement haben? Es leben in Deutschland 2,5 Mio. arbeitslose Bürger, 17,5 Mio. Bürger über 65 Jahre (bei 25 Mio. Rentenleistungen), 2,85 Mio. Studenten (13% davon mit ausländischer Staatsangehörigkeit), pro Jahr ca. 500.000 Studien- und Wahlberechtigte - und unter den 44 Mio. Erwerbstätigen sollten doch wohl auch ein paar sich finden, die Zeit für politisches Engagement aufbringen können.

Schauen wir uns nun die andere Seite an: Gandhi hatte 78 Begleiter auf seinem Marsch, um das Salzmonopol der Briten zu brechen; bei der größten Veranstaltung auf einer der Etappen, waren ca. 30.000 Menschen zu Begrüßung, Rede und zum Gebet versammelt. Die Engländer haben anschließend etwa 50.000 Menschen verhaftet. Was ein Fehler war ...

Am Marsch von Selma nach Montgomery nahmen zwischen 500 und 1000 Menschen teil, der abschließenden Rede von Martin Luther King, es ging um die Durchsetzung des Wahlrechtes von Schwarzen, hörten rund 25.000 Menschen zu. Alsbald hat LBJohnson unterschrieben.

An den ersten Montagsdemos in Leipzig nahmen im Frühjahr etwa 500 DDR-Bürger teil, im September lagen die Zahlen bei 20.000, Anfang Oktober 1989 wurde die Hunderttausend-Grenze überschritten. Im November gab es die Mauer nicht mehr.

Derartige Aktionen sollten immer der Schlußstein in einer politischen Bewegung bzw. bei einem entsprechenden politischen Neuaufbau sein. Doch wie die Beispiele zeigen, genügen wenige Promille einer Bevölkerung, um entsprechenden Druck aufzubauen und etwas zu bewirken - eigentlich wundersam wenig ...

Wo ist dann das eigentliche Problem? Ich würde sagen, dass es augenblicklich ein echtes und komplettes Desinteresse an Politik ist. Die Standardantwort lautet: man kann ja eh nichts machen! Wer von denen, die das sagen, hat es je versucht?! Ich schätze mal, dass 90% aller Menschen in den westlichen Gesellschaften komplett unpolitisch sind, mit Null Interesse an Gemeinschaft, an der lokalen Kommune, an Gesellschaft und Staat. Nicht die Zeit fehlt diesen Bürgern sondern der Sinn für Politik schon, und sodann die Motivation.

Und wenn die Motivation gegeben wäre, dann fehlt es als nächstes an der Sachkunde. Wenn ich etwa an Anhörungen bei Bebauungsplänen oder in der Straßenplanung denke, also bei Dingen, die eigentlich überschaubar sind, da fällt mir nur auf, dass stets das geäußert wird, was einen persönlich stört - und im schlimmsten Fall ist es nur das, was eine sog. Bürgerinitiative den Betroffenen als 'störend' vorgekaut und verklickert hat. In die Sache selbst vertieft sich niemand, und von den oft schwierigen Abwägungen zwischen den partikularen Interessen will keiner was wissen. Hinterher wird dann aber ordentlich geschimpft.

Nein - keine Motivation, kein Sachverstand. Stattdessen Lahmarschigkeit auf der ganzen Strecke. Nichteinmal EMOTION. Das Einzige, was da ein wenig aufgeflackert ist in den letzten Jahren: dumpfe Ausländerfeindlichkeit. Schleiermacher, einer der großen Nachdenker in Sachen Staat und Religion und Ethik (dem wir in gewisser Weise auch deutsches Nationalbewußtsein verdanken), hätte das als 'selbstsüchtig' bezeichnet; gemäß ihm kann man mit Selbstsucht allein keinen echten 'Staat' gestalten. Die modernen Gesellschaften des Westens sind aber, wenn ich es richtig sehe, komplett auf Selbstsucht aufgebaut. Oder doch nicht?

https://www.youtube.com/watch?v=I1Uc2369RYk
(spontane Hilfsaktion nach Youtube-Video, 48 sec.)

Fehlt also nur der konkrete Bezug?

Manchmal denke ich, dass vielleicht ein großer Entwurf, eine starke Idee uns retten könnte. Eine Art Masterplan - so treffend, so schlüssig und so verständlich ausgearbeitet, dass eine Mehrheit sagen könnte: das ist es, so könnte es gehen, da bin ich dabei. Aber wer wollte so einen Plan entwickeln?

Vermutlich hätte der FRIEDE die oberste Position in einem derartigen Masterplan inne. Für die Menschheit war bis zum 19. Jahrhundert der Krieg eine alltägliche und offenabar notwendige Sache, die man wohl oder übel akzeptieren musste. Durch die zwei Weltkriege und die moderne Waffentechnik hat es einen Bruch in dieser Anschauung gegeben. Zugleich sehen wir, dass technisch und ressourcenmäßig wir in der Lage wären, auch ohne Krieg 'allen' Menschen auf dieser Erde ein auskömmliches Leben zu bereiten.

Warum gelingt es uns aber nicht? Friede herzustellen zwischen den Menschen innerhalb des Staates und seiner Gliederungen, Friede zwischen den einzelnen Staaten, Friede zwischen Mensch und Natur? (Siehe den LINK zum International Harmony Index im Post Skriptum)

Kehren wir zurück zur Weltpolitik. Russland und China würden einem solchen Konzept ganz gewiss zustimmen: allgemeiner Friede in einer multipolaren, kooperativen Welt. Wer hierbei aber todsicher nicht zustimmt, das sind die USA und Europa. Wir nämlich sind die PSYCHOPATHEN. Wir haben sie unter uns. Und wir tun nichts gegen sie!

Es gibt die Friedensbewegung noch. Hier sind die Termine, die traditionell ja an Ostern liegen:
https://www.friedenskooperative.de/termine?thema=69

Diese Friedensaktivisten werden heute allerdings nicht mehr 'medial' unterstützt. Vielmehr sind Hetze und Krieg gerade wieder 'in'. Könnte durchaus sein, dass es deshalb eine weitere Generation Menschenleben kostet, bis wieder einmal die Friedensglocken klingen.

Ganz unten habe ich ein paar LINKs zu Geläuten, weltweit gesehen, eingestellt. Wen's interessiert, der kann ja mal reinhören.

Mit österlichen Grüßen,
Weiner

PS-1: Harmony-Index
Ich war auf der Suche nach alternativen Modellen zur 'Demokratie', die in diesem Forum nicht gut weg kommt (doch könnte man dann halt bessere Vorschläge machen ...). Ich stieß dann auf das nachfolgende Buch.

https://press.princeton.edu/titles/10418.html

Dort findet sich unterhalb des zweiten Videolinks ein Appendix 1 - Harmony in the World 2013: The Ideal and the Reality.

Bitte dort klicken für ein pdf mit einer Untersuchung: welche Staaten bieten ihren Bürgern HARMONIE (Indikatoren sind Scheidungen, Suizide, Zahl der Gefängnisinsassen etc.)? Deutschland steht reicht weit oben ...

Der Autor gehört einer gewissen Klasse an, die sich über die Zukunft der Welt durchaus Gedanken macht.

https://en.wikipedia.org/wiki/Project_Syndicate
https://en.wikipedia.org/wiki/Daniel_A._Bell
https://de.wikipedia.org/wiki/Meritokratie

Korrespondierend gibt es auch einen Militarisierungsindex, der vom Institut für Konversion in Bonn herausgegeben wird. Israel setht an erster Stelle. Und dieses Land hat maßgeblichen Einfluss auf die USA ...

https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/GMI_2017_DE.pdf

PS - 2: Glocken

https://www.youtube.com/watch?v=9Pr5DZ9WJpE
petersdom rom, die erste minute etwa, ein schöner absteigender aufbau

https://www.youtube.com/watch?v=jbtqJWZT_EI
köln, ab min 2:45 der dicke pitter, nächste glocke dann bei 13:45 bzw. 14:45

https://www.youtube.com/watch?v=YZXnSLR4wiI
erfurt gloriosa, die größte freischwingende aus dem mittelalter, über 500 Jahre alt

https://www.youtube.com/watch?v=B4LfoskTXKY
im freien odenwald, gleicher ton

https://www.youtube.com/watch?v=3PfWMQpRfd8
liebfrauenkirche münchen, hell, abgerundet

in Asien werden die Glocken von außen angeschlagen

https://www.youtube.com/watch?v=dtXdieHPb_Q
chinesische Glocke

https://www.youtube.com/watch?v=7YEyMLX3sD8
koreanische 'nationalglocke', 1250 jahre alt

die Russen schlagen ihre Glocken von innen

https://www.youtube.com/watch?v=KLEfH61rx6g
kreml, die glöcknerearbeit ab etwa min 1:10

https://www.youtube.com/watch?v=pCcLC_ojzHQ
dasselbe in rostov na donu

https://www.youtube.com/watch?v=0w6SQdrFSUg
wallstreet trinity church, so richtig kitschig

in südwesteuropa gibt es die tradition mit überschlag

https://www.youtube.com/watch?v=B-VtZW1vJc4
st. remi - sieht irgendwie gefährlich aus und würde nach den deutschen Unfallvorschriften keinesfalls durchgehen - also nur kurz reinschauen zwischen 1:30 und 3:00 ...

https://www.youtube.com/watch?v=Xs2LxWxhrQo
dasselbe, nun sehr serös, in madrid

Literatur: Sono auribus viventium: Kultur und Theologie des Glockenläutens, von Wolfgang Vögele (Glockentradition in Europa seit dem Mittelalter)