"Seelisch Erlebtes", Gedanken und Ego

Loki, Samstag, 07.10.2017, 14:21 (vor 2396 Tagen) @ Falkenauge4210 Views

Moin Falkenauge,

Was mir an Deinem Artikel auf Fassadenkratzer nicht gefällt, ist dieser Hauch von Beliebigkeit bei der Verwendung einzelner, aber zum gegenseitigen Verständnis wichtiger Worte.

Konkret geht es mir um Begriffe wie "Denken" oder gar "reines Denken", "Verstand", "waches ~", bzw. "schauendes Bewusstsein" und die Frage, was eigentlich zuerst da war: Empfundene Kräfte oder das Reflektieren des Verstandes über die empfundenen Kräfte?

Meine Logik sagt: Zuerst muss Erlebtes da sein, damit ein aufnahmebereites Bewusstsein darüber nachdenken kann. Dazu muss aber m.E. das "alltägliche Bewusstsein" zuerst "schlafen gehen", damit die Intuition "erwachen" kann und dann sind wir schon bei der ersten Begriffsverwirrung, wenn bei "Wachheit" kein Konsens gefunden werden kann: Was ist "waches Bewusstsein", bzw. ist das Bewusstsein eines in tiefe Meditation versunkenen Menschen wach?

Konkret stören mich zum Beispiel folgende Sätze:

Unser waches Bewusstsein wird durch das Denken gebildet. Nur in den klaren Begriffen und Ideen des Denkens sind wir hellwach. Alles andere bleibt außerhalb des Denkens dunkel und unbekannt und wird erst von ihm beleuchtet und in das Licht des Bewusstseins gehoben.

Sie stören mich deswegen, weil m.E. "Denken" mit Bewusstseinsbildung rein nichts zu tun hat, denn wenn ich an einem Bach sitze, lausche und ins Wasser schaue - ohne zu denken - kann ich wacher und bewusster empfinden, was ich gerade erlebe, als wenn ich am Bach sitze und grüble.

Etwas anderes ist es dann natürlich, das Erlebte in Worte fassen und mitteilen zu wollen, dann brauche ich meinen Verstand, um für das Erlebte Worte zu finden und diese inneren Prozesse äußern zu können.

So gesehen ermöglichen die Gedanken und der Verstand lediglich ein "begriffliches" Begreifen, haben aber mit dem Bewusstsein und tief-empfundenem Verständnis meist nur wenig zu tun.

Was Fichte dazu meinte, finde ich etwas abgehoben:

In meiner Seele leben Kräfte auf, die eins sind mit den schöpferischen Kräften des ganzen Daseins. Sie lassen in meinem reinen Denken Begriffe und Ideen erstehen, die nicht nur flaches, lebloses Bild sind wie die des Verstandes, sondern plastisch lebendig die Realität des geistigen Seins in sich tragen. Bewusstsein ist dann nicht mehr nur in sich abgeschlossenes bloßes Bewusst-sein, das auf ein irgendwo befindliches Sein hindeutet, sondern bewusstes – Sein; es ist mit der Realität des Seins erfüllt.

Aber wenn man diese Zeilen genau liest, erkennt man, dass hier der "innere, geistige Prozess der Wahrnehmung" das Wesentliche ist und nicht die Gedanken danach und die Begrifflichkeiten dazu. Die braucht man dann nur, um sich anderen mitteilen zu können.

Ganz banales Beispiel: Als wir noch jünger waren... kannst Du Dich noch an hingebungsvolle Liebesakte erinnern? Haben wir in diesen Momenten groß nachgedacht? Und könnten wir auch nur ansatzweise Worte für das Empfundene finden, um das Erlebte in all seinen Facetten zu beschreiben oder waren wir in diesen Momenten gar unbewusst und nicht ganz wach?
Und schmälert unser Unvermögen, adäquate Worte zu finden, das Empfundene oder wird es nicht im Gegenteil gerade durch die fehlenden Worte zu einer unbeschreiblich großen Sache?
Ähnlich ist es bei geistigen Erkenntnissen, denn wenn schon die Worte fehlen, Tiefinneres zu vermitteln, wie will man dann sagen können: Mein Sex ist besser?

Was Fichte weiter schreibt, ist in meinen Augen "Selbst-Verherrlichung", hier wird statt "Demut und meditative Hingabe" die "eigene Göttlichkeit und das Denken" propagiert:

„Darin besteht die Religion, dass man in seiner eigenen Person, und nicht in einer fremden, mit seinem eigenen geistigen Auge, und nicht durch ein fremdes, Gott unmittelbar anschaue, habe und besitze. Dies aber ist nur durch das reine und selbständige Denken möglich; denn nur durch dieses wird man eine eigene Person, und dieses allein ist das Auge, dem Gott sichtbar werden kann. Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein, und umgekehrt: das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit ist nichts anderes, denn als das reine Denken.“

...aber zu dem "reinen Denken" komme ich weiter unten noch.

Friedrich Wilhelm Schelling, der die Philosophie Fichtes fortsetzte und über sie hinausging, sah in diesem klaren Hineinführen des Denkens in die uns umgebende geistig-göttliche Welt die notwendige Vereinigung von Wissenschaft und Religion, zu der er die Deutschen veranlagt sah:
„Die deutsche Nation strebt mit ihrem ganzen Wesen nach Religion, die mit Erkenntnis verbunden und auf Wissenschaft begründet ist. … Wiedergeburt der Religion durch die höchste Wissenschaft, dieses ist eigentlich die Aufgabe des deutschen Geistes, das be­stimmte Ziel aller seiner Bemühungen.“

Das ist ein klassisches Beispiel, was ich mit Beliebigkeit gemeint habe:
Schelling spricht vom "deutschen Geist" und daraus wird eine "Hineinführung des Denkens in die göttliche Welt" gemacht, als könnte man "Geist" und "Denken" gleichsetzen.

Der göttliche Geist in mir denkt zum Beispiel nicht, genausowenig, wie die bösen Geister in mir denken, sie treiben mich "nur" immer wieder mittels meiner Leiden-schaffenden Leidenschaften in die Bredouille.

Und zum Schluß Deines Artikels zitierst Du R. Steiner

Lediglich Rudolf Steiner [...] zeigte Wege, das reine lebendige Denken in ein schauendes Bewusstsein hineinzuführen, das „in der Lage ist, die geistige Welt erlebend zu erkennen.

Es würde mich freuen, geschätzter Falkenauge, wenn mir ein Anthroposophe erklären könnte, wie das so ganz eigentlich funktioniert. Denn wenn ein "reines lebendiges Denken in ein schauendes Bewusstsein hinein geführt hat", dann müsste das Erlebte doch eigentlich erklärbar sein, da das Denken immer nur vermittels Worten und Begrifflichkeiten vonstatten gehen kann.

Und ein "reines lebendiges Denken" sollte doch dann reine und lebendige Worte finden?

Das ist nämlich ein weiterer Punkt, der mich bei vielen Anthroposophen stört:
Sie sagen, da gäbe es Wege zu tiefinnerem Empfinden (wahrscheinlich der eigenen Göttlichkeit), aber wenn man dann nachfrägt, was damit gemeint ist, hört man oft: "Das kannst Du gar nicht verstehen und das ist auch nicht erklärbar, wenn Du es selber nicht erlebt hast!" Da habe ich mir dann manchmal gedacht: "Achso, ja dann vielen Dank für das Gespräch, aber das hätten wir dann eigentlich auch sein lassen können."

Aber auf der anderen Seite wird so getan, als wäre das "reine Denken" das Non+Ultra.
"Reines Denken", welches sich nicht äußern lässt?
Das beißt sich meines Erachtens ziemlich heftig.

Die Anthroposophie ist aber bis heute eine verkannte Randerscheinung des allgemeinen Kulturlebens geblieben.

Das finde ich u.a. aus obigen Gründen wiederum nicht, denn die Anthroposophie hatte 100 Jahre Zeit, die Lehren Steiner's zu sortieren und einen Begriffsrahmen zu definieren, damit man auch mal einigermaßen verständlich über Geist, Denken und Bewusstsein reden kann. Eine gewisse Modernisierung der Worte Steiner's hätte auch nicht geschadet, aber nichts davon geschieht.

Was Rudolf Steiner vielleicht noch nicht so durchschaut hatte, ist m.E. die Rolle des EGOs, dazu hatte ich gestern ein paar Szenen aus einem interessanten Film verlinkt.

Ich habe mal herausgeschrieben, was der Protagonist zum EGO zu sagen hat:

"Da ist etwas in einem, über das man nichts weiß.
Etwas, das man solange verleugnet, bis es zu spät ist, etwas dagegen zu tun.
Es ist der einzige Grund dafür, dass man am morgen aufsteht, seinen beknackten Chef erträgt und alles Blut und Schweiß und die Tränen.
Und das nur, damit alle wissen, wie gut, attraktiv, großzügig, witzig und clever man ist.
Fürchtet oder verehrt mich. Aber bitte haltet mich für etwas Besonderes.
Wir haben alle dieselbe Sucht. Wir sind Anerkennungsjunkies.
Wir gieren alle nach dem Schulterklopfen - der goldenen Uhr - dem verdammten Applaus.
...dem Siegerpokal. Wir sind bloß Affen, in Anzüge gesteckt, die um Anerkennung betteln.
....wenn wir das wüssten würden wir all das nicht tun.
Irgendjemand versteckt diese Wahrheit vor uns."

Im Nachspann dieses Filmes kommen ausgewählte Psychologen zu Wort, ich zitiere:

Das Ego-Bewusstsein, das "Ich" ist der größte Betrüger, den man sich vorstellen kann, weil man es nicht sehen kann. (Dr. Datillo)
Und der größte Betrug dabei ist, zu sagen: "Ich bin Du!" (Dr. Hayes)
Das Problem ist, dass das Ego sich da versteckt, wo man es am wenigsten erwartet: In Sich Selbst.
Es verkauft seine Gedanken als die ihren, seine Gefühle als die ihren, Sie halten es für ihr "Selbst".
Die Leute haben keine Ahnung, dass sie im Gefängnis sitzen, sie wissen nicht, dass es ein Ego gibt. Sie erkennen den Unterschied nicht. (Leonard Jacobson)
Unser größter Feind ist unsere eigene Selbstwahrnehmung, die eigene Ignoranz, das EGO. (Dr. Harris)

Ein Dr. Hawkins sagt dann noch zu einer Ebene außerhalb unseres begrifflichen Verstandes:

Anfangs ist es nicht leicht für den Verstand, zu begreifen, dass es etwas gibt, was sich außerhalb seiner selbst befindet, dass es etwas gibt, das von größerem Wert und einer größeren Auffassungsgabe von Wahrheit ist...

Herausgeschrieben aus diesem Kurzfilm.

Geschätzter Falkenauge, bitte verstehe meine Kritik nicht falsch oder persönlich; ich glaube nämlich schon, dass Du einen ernsthaft-guten Willen besitzt, aber ich habe mit manchen Abstrahierungen der Anthroposophie schon lange so meine Probleme, deswegen als kleine Auswahl meine obigen Einwände.


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