Der „Übergang“ zu einer neuen Weltordnung ist für die meisten Menschen im Westen ein Rätsel

nereus @, Donnerstag, 22.05.2025, 08:32 vor 216 Tagen 5048 Views

Einer meiner Lieblingsanalysten – Alaistar Crooke - hat einen sehr lesenswerten Artikel geschrieben.
Hier ein paar Auszüge:

Die neue Ära markiert das Ende der „alten Politik“: Die Etiketten „Rot gegen Blau“ und „Rechts gegen Links“ verlieren an Bedeutung.
Selbst die Notwendigkeit eines Übergangs – um das klarzustellen – wird in den USA erst jetzt erkannt .

Die europäische Führung und die Nutznießer der Finanzialisierung, die hochmütig über den „Sturm“ klagen, den Trump unklugerweise über die Welt entfesselt hat, verspotten Trumps grundlegende ökonomische Thesen als bizarre Vorstellungen, die völlig losgelöst von der wirtschaftlichen „Realität“ seien.

Das ist völlig falsch.
Denn wie der griechische Ökonom Yanis Varoufakis betont, hat Paul Volcker, der ehemalige Vorsitzende der US-Notenbank, die Realität der westlichen Lage und die Notwendigkeit eines Übergangs bereits 2005 klar dargelegt.

Quelle: https://www.unz.com/acrooke/transition-to-a-new-world-order-is-beyond-most-in-the-west/

Was hat Volcker damals gesagt?

Was das globalisierte System zusammenhält, ist ein massiver und wachsender Kapitalzufluss aus dem Ausland, der sich täglich auf über zwei Milliarden Dollar beläuft – Tendenz steigend. Es gibt kein Gefühl von Belastung. Als Nation leihen oder betteln wir nicht bewusst. Wir bieten nicht einmal attraktive Zinsen und müssen unseren Gläubigern auch keinen Schutz vor dem Risiko eines Dollar-Verfalls bieten.
Für uns ist das alles ganz angenehm.
..
Und auch für unsere Handelspartner und Kapitalgeber war es angenehm. Einige, wie China [und Europa, insbesondere Deutschland], waren stark von unseren expandierenden Binnenmärkten abhängig.
..
Die Schwierigkeit besteht darin, dass dieses scheinbar bequeme Muster nicht ewig so weitergehen kann.

Das vor 20 Jahren. Wie schaut es jetzt aus?

Trump ist gerade dabei, das Welthandelssystem zu sprengen, um es neu auszurichten. Die westlichen Liberalen, die heute zähneknirschend den Aufstieg der „Trumpschen Ökonomie“ beklagen, leugnen schlicht, dass Trump zumindest die wichtigste amerikanische Realität erkannt hat – nämlich, dass dieses Muster nicht ewig so weitergehen kann und dass der schuldengetriebene Konsumismus längst überholt ist.

Das paßt, aber gibt es auch eine Lösung?

Das heißt natürlich nicht, dass Trumps Lösung des Problems funktionieren wird. Möglicherweise könnte Trumps besondere Form der strukturellen Neuausrichtung die Lage sogar noch verschlimmern.

Dennoch ist eine Umstrukturierung in irgendeiner Form unausweichlich.
Andernfalls läuft es auf die Entscheidung zwischen einem langsamen oder einem schnellen und ungeordneten Konkurs hinaus.

Das wollte ich hören.
Die Flut steht unmittelbar vor dem Haus, aber was machen wir?
Öffnen wir langsam Fenster und Türen, um langsam zu ersaufen?
Klettern wir aufs Dach, in der Hoffnung, das Wasser steigt nicht so hoch oder flüchten wir über den alten Tunnel zum Berg?
Konsequenz: Unseren Arsch können wir retten, aber nicht unsere „Bleibe“ und unser altes Leben.
Alles wird mitgerissen – mehr oder weniger.

Das dollargestützte globalisierte System funktionierte zunächst gut – zumindest aus US-Sicht.
..
Die gegenwärtige Krise begann jedoch mit einem Paradigmenwechsel – als in den USA eine Ära unhaltbarer struktureller Haushaltsdefizite begann und als die Finanzialisierung die Wall Street dazu veranlasste, ihre umgekehrte Pyramide aus derivativen „Vermögenswerten“ aufzubauen, die auf einem winzigen Dreh- und Angelpunkt aus realen Vermögenswerten ruhte.

Für Mitleser, denen das Thema zu fremd oder zu hoch ist, sei als Metapher diese Frage gestellt:
Wie viele Prozent von 100 werden täglich von allen weltweiten Devisen-Transaktionen für echte Produkte und Dienstleistungen (Warenverkehr) ausgegeben?

50%, 40% oder nur 15 oder gar 10?
Nein, es sind weniger als 1 %. Man schätzt etwa 0,5 bis 0,7 %.
Daraus folgt, mehr als 99 % aller Währungstransaktionen - und die Weltleitwährung US-Dollar ist hier vielfach gekrönter König - dienen der Spekulation.
Habt Ihr das Problem jetzt verstanden? [[freude]]

Zurück zum Beitrag:

Doch die geostrategische Krise des Westens geht weit über den strukturellen Widerspruch zwischen Kapitalzuflüssen und einem „starken“ Dollar hinaus, der dem US-amerikanischen Fertigungssektor das Herz aushöhlt. Denn sie ist auch mit dem damit einhergehenden Zusammenbruch der Kernideologien verbunden, die dem liberalen Globalismus zugrunde liegen.

Es ist diese tiefe westliche Ideologie-Verehrung (und der vom System gewährte „Trost“), die eine solche Welle der Wut und des offenen Spotts gegenüber Trumps „Neuausrichtungsplänen“ ausgelöst hat.
Kaum ein westlicher Ökonom findet ein gutes Wort – und dennoch wird kein plausibler alternativer Rahmen angeboten.
Ihre Leidenschaft für Trump unterstreicht lediglich, dass auch die westliche Wirtschaftstheorie bankrott ist.

Das heißt, die tiefere geostrategische Krise des Westens besteht sowohl im Zusammenbruch archetypischer Ideologien als auch einer paralysierenden Eliteordnung.

Dreißig Jahre lang verkaufte die Wall Street eine Fantasie (Schulden spielten keine Rolle) … und diese Illusion zerbrach einfach.

Volltreffer!
ideologie-Verehrung - das muß ich mir unbedingt merken. [[top]]

Wer den ganzen Artikel lesen möchte, bitte hier entlang: https://www.unz.com/acrooke/transition-to-a-new-world-order-is-beyond-most-in-the-west/

Nein, eine schmerzfreie Lösung hat Herr Crooke auch nicht.

mfG
nereus

Kritik

Revoluzzer @, Donnerstag, 22.05.2025, 09:10 vor 216 Tagen @ nereus 3440 Views

Crooke schreibt zum Thema Archetypen:

"No, the bigger problem is that the archetypal myth of individuals (and oligarchs) pursuing their own separate and individual utility maximisation – thanks to the hidden hand of market magic – is such that in aggregate, their combined efforts will be to the benefit of the community as a whole (Adam Smith) has collapsed too.

Effectively, the ideology to which the West clings so tenaciously – that human motivation is utilitarian (and only utilitarian) is a delusion."

Tja. Da hat jemand das Homo Oeconomicus-Modell nicht verstanden. Modelltheoretisch sind der moslemische Selbstmordattentäter und Jesus Christus das Gleiche wie Elon Musk oder Jeff Bezos. Crooke schiebt hier das konkrete Versagen von Personen und Institutionen (die vielleicht einfach am Ende ihrer Lebensdauer angekommen sind) auf eine Modellebene.

Das gesellschaftliche Problem ist ein Problem der Kurzfristigkeit: Der totale Fokus auf die nächste Wahl, maximaler Gewinn hier und heute, Verlust der Planung, Verlust der Fähigkeit zu langfristigen Investitionen, Verlust des Wirklichkeitsbezugs, totaler Konstruktivismus usw. usf. Das sind alles konkrete Dinge, die man ändern kann. Nichts davon hat mit dem H.O. zu tun. Im Gegenteil: Der H.O. ist eben ein Modell, mit dem man auch diese Fehler "sehen" und lösen kann.

Letztlich geht es Crooke wohl um eine Art Kommunitarismus auf globaler Ebene: Weg mit der Freiheit. Her mit sozialen Pflichten.

Und weiter:

"libertarian values of America (drawn from the French Revolution)."

Oh, das tut weh! Die französische Revolution war: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der, in heutigen Worten, sozialistische, etatistische Tenor ist unübersehbar (Gleichheit, Brüderlichkeit). Rousseau läßt grüßen. Diesen Ansatz ins gleiche Boot mit Hayek und Smith zu werfen, ist unlauter, einfach falsch.

Zusammengefasst:

Ich bezeichne Crooke hier und in dieser Hinsicht als Scharlatan, der gerade den wesentlichen, wertvollen Kern des Westens - den absurden Glauben an die individuelle Freiheit - angreift.

Einspruch

nereus @, Donnerstag, 22.05.2025, 11:49 vor 216 Tagen @ Revoluzzer 2968 Views

Hallo Revoluzzer!

Crooke meint, das die individuelle Nutzenmaximierung nicht zwingend eine Optimierung der Gesellschaft zur Folge hat.
Dagegen kann man schlecht etwas sagen, denn funktionierende Gesellschaft verlangt immer Kompromisse, die der Nutzenmaximierung entgegen stehen.

Du schreibst: Modelltheoretisch sind der moslemische Selbstmordattentäter und Jesus Christus das Gleiche wie Elon Musk oder Jeff Bezos. Crooke schiebt hier das konkrete Versagen von Personen und Institutionen (die vielleicht einfach am Ende ihrer Lebensdauer angekommen sind) auf eine Modellebene.

Was Du damit andeuten willst, erschließt sich mir nur teilweise, da alle Genannten sehr unterschiedliche Motive hatten oder haben.
Was sie vereint, ist ihre menschliche Existenz.

Das gesellschaftliche Problem ist ein Problem der Kurzfristigkeit: Der totale Fokus auf die nächste Wahl, maximaler Gewinn hier und heute, Verlust der Planung, Verlust der Fähigkeit zu langfristigen Investitionen, Verlust des Wirklichkeitsbezugs, totaler Konstruktivismus usw. usf.
Das sind alles konkrete Dinge, die man ändern kann.

Vermengst Du hier nicht ein paar Dinge? [[hae]]
Eine Gesellschaft besteht aus Individuen mit ihren jeweiligen Handlungsmotiven, die kurz- und langfristig sein und sich auch ständig ändern können.

Diese Motive, Perspektiven und daraus resultierenden Aktivitäten münden in gesellschaftliche Prozesse.
Crooke hat zuvor festgestellt, daß diese individuelle Nutzenmaximierung an ihre Grenzen stößt.

Nichts davon hat mit dem H.O. zu tun.

Hallo!
Das hat alles damit zu tun, denn Gewinnstreben, Kurzfristdenken oder Konstruktivismus leiten sich aus individuellen Motiven der Nutzenmaximierung her.

Im Gegenteil: Der H.O. ist eben ein Modell, mit dem man auch diese Fehler "sehen" und lösen kann.

Aber das sagt doch Crooke!
Das Modell ist fehlerhaft.

Letztlich geht es Crooke wohl um eine Art Kommunitarismus auf globaler Ebene:
Weg mit der Freiheit. Her mit sozialen Pflichten.

Damit hat er ja nicht ganz Unrecht, oder?
Natürlich kann jeder Mieter seinen wöchentlichen Reinigungsdienst in der „Wohnanlage“ wegen andersgearteter individueller Nutzenmaximierung ausfallen lassen, aber dann wird es nach wenigen Monaten im Haus stinken und der Müll wird sich auftürmen.
Und warum soll die Freiwillige Feuerwehr zur Brandbekämpfung ausrücken, wenn doch gerade die Party so schön läuft und das Model, das von der Vereinskasse bezahlt wurde, noch nicht einmal die Bluse ausgezogen hat und das Beste noch kommt.

Und weiter: "libertarian values of America (drawn from the French Revolution)."

Oh, das tut weh! Die französische Revolution war: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der, in heutigen Worten, sozialistische, etatistische Tenor ist unübersehbar (Gleichheit, Brüderlichkeit). Rousseau läßt grüßen.
Diesen Ansatz ins gleiche Boot mit Hayek und Smith zu werfen, ist unlauter, einfach falsch.

Darüber kann man gerne diskutieren, aber ich vermute hier geht es ihm mehr um die plakativen Aussagen zur Freiheit, die er treffend als Ideologie-Verehrung bezeichnet.
Ich unterstelle, daß Crooke weiß, was damals passierte und schon der FGB Spruch eine Lüge war.
Denn ursprünglich kam nach der Brüderlichkeit noch der Tod als Alternative.

Ich bezeichne Crooke hier und in dieser Hinsicht als Scharlatan, der gerade den wesentlichen, wertvollen Kern des Westens - den absurden Glauben an die individuelle Freiheit - angreift.

OK, jeder hat das Recht einen Text so zu interpretieren, wie er ihn gerne verstanden wissen will. [[zwinker]]

mfG
nereus

Werbung