Über die Unschuldsvermutung

Michael Krause, Samstag, 17.06.2023, 12:52 (vor 908 Tagen)4367 Views

Zur Unschuldsvermutung

Angeregt durch die lesenswerte Kolumne des großartigen Jan Fleischhauer vom heutigen Tage im Focus habe ich zur Erbauung der geneigten Leserschaft eine kurze Erklärung zur Unschuldsvermutung verfasst. Sie erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch sondern soll ermutigen, selber tiefer zu forschen.

Mir ist dabei wieder einmal klar geworden, welches große europäische kulturelle Erbe wir haben.

Es ist schon erschütternd, was man derzeit alles in den sozialen Medien zur Unschuldsvermutung geschrieben wird. Eine nicht unerhebliche Gruppe glaubt, diese sei ein soziales Konstrukt, welches von einem Instagram Gericht ausgesetzt werden kann, insbesondere bei Vorliegen eines Machtgefälles (so Fleischhauer in seiner lesenswerten Kolumne vom 17.6.2023 im Focus)

Die Unschuldsvermutung geht auf den französischen Kardinal Lemoine (1250-1313) zurück. Auf diesen geht auch der Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör zurück, abgeleitet aus der Bibel. Der allwissende Gott fragt Eva, warum sie den Apfel gegessen hat.

Die Unschuldsvermutung beruht auf zwei allgemeinen Grundsätzen, nämlich dass die Nicht-Existenz von Etwas schwerer zu beweisen ist als dessen Existenz. Deshalb muss derjenige den Umstand beweisen, der im Gegenteil behauptet, dass etwas ist. Dass die Schuld bewiesen werden muss folgt ferner aus dem Grundsatz, dass derjenige, der Tatsachen behauptet, sie auch zu beweisen hat (ei incumbit probatio qui dicit, non qui negat)

In Deutschland wurde die Unschuldsvermutung von dem Jesuiten Friedrich Spee (1591-1635) aufgegriffen und vertieft. In seiner zunächst anonym erschienen Schrift cautio criminalis griff Spee Folter und Hexenwahn an. Thomasius setzte die Ansichten Spees dann 1699 juristisch um und forderte folgerichtig die Abschaffung der Hexenprozesse.

Spees Grundsatz, in dubio pro reo regelt aber im Grunde nicht die Beweislast selbst sondern die Folgen eines misslungenen Beweises (M.A. Niggli, Unschuldsvermutung? Wieso Vermutung?).

Die Unschuldsvermutung hat als universelles Menschenrecht Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Art. 11 Abs. 1) gefunden:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“

Sie ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 und 28 Abs. 1 Satz 1 GG).

Dies bedeutet, solange ein ordentliches Gericht nicht die Schuld eines Angeklagten festgestellt hat, ist er unschuldig.

Die Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse. In Art. 13 des Pressekodex heißt es:

„Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.“

Was meint also die Spiegel Redakteurin Fries damit, wenn sie schreibt, „auch ich hätte eines von Lindemanns Mädchen werden können.“ Man versucht damit, so Fleischhauer zutreffend, „den Raum des Strafbaren jenseits des Justitiablen auszuweiten“.

Ob dies im Fall Rammstein gelingt ist fraglich. Aber vielleicht ist Lindemann ja gar nicht unschuldig? Der letzte Satz dient der Schärfung der Lesekompetenz im Internetzeitalter.


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