Mit dieser „Delegitimierung des Staates“ delegitimiert sich der Verfassungsschutz selbst

Falkenauge, Freitag, 03.02.2023, 08:46 (vor 440 Tagen)3269 Views

Der Verfassungsschutz hat einen neuen „Phänomen-Bereich“ eingeführt: Die „verfassungsschutz-relevante Delegitimierung des Staates“. Darunter wird auch „eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten" des Staates verstanden, die verfassungsfeindlich sei. Der Freiburger Staatsrechtler Prof. Dietrich Murswiek widerspricht dem entschieden. Mit solchen verschwommenen Begriffen weiche der Verfassungsschutz die Grenzen des juristisch Fassbaren auf und ermächtige sich selbst, berechtigte oppositionelle Bestrebungen als extremistisch zu bewerten. Kritik, auch scharfe, sei das Lebenselixier der Demokratie.

Die Bilder von den Querdenker-Großdemonstrationen gegen die Corona-Politik der Regierung im Sommer 2020 in Berlin mit nach Schätzungen bis zu 1,3 Millionen Teilnehmern aus ganz Deutschland bereiteten dem Parteien-Kartell ein mulmiges Gefühl. Als erstes wurden die Demonstranten nach parteipolitischer Manier diskreditiert und in die rechte Ecke gestellt, dann die Demonstrationen mit scheinheiliger Begründung verboten und die Polizei zu außerordentlich massivem Vorgehen gegen trotzdem auf die Straße gehende Menschen befohlen, was den damaligen UN-Sonderberichterstatter für Folter und Menschenrechtsverletzungen, den Schweizer Rechtswissenschaftler Professor Nils Melzer auf den Plan rief, der z.T. grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlungen feststellte, die den Tatbestand der Folter erfüllten. 1

Schließlich steigerte sich der damalige Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) vor einer von „Querdenken 711“ angezeigten Veranstaltungen am 29. August 2020 zu der Bemerkung: „Ich bin nicht bereit, ein zweites Mal hinzunehmen, dass Berlin als Bühne für Corona-Leugner, Reichsbürger und Rechtsextremisten missbraucht wird. Ich erwarte eine klare Abgrenzung aller Demokraten gegenüber denjenigen, die unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit unser System verächtlich machen.“ 2

Im April 2021 führte das Bundesamt für Verfassungsschutz unter seinem neuen Präsidenten Thomas Haldenwang (SPD) als neuen Phänomen-Bereich die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ mit der „Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentanten“ ein.

Bereits damals kritisierte Prof. Murswiek gegenüber Epoch Times Geisels Aussage mit den Worten:
„Unabhängig davon, ob dies der eigentliche Grund für das Verbot ist und die Argumentation mit der befürchteten Nichteinhaltung der Hygieneregeln nur vorgeschoben ist, ist diese Aussage klar verfassungswidrig.“
Der Innensenator setze das Mittel des Versammlungsverbotes ein, um politische Gegner der Regierung am Demonstrieren zu hindern. Dies verstoße nicht nur gegen die Versammlungsfreiheit, sondern richte sich auch gegen das Demokratieprinzip.3

Verfassungsschutz: Wer delegitimiert hier wen?

In einem Gastbeitrag bei „Legal Tribune Online“ 4 ging nun Prof. Murswiek detailliert auf die Gefahren ein, die von dem vom Verfassungsschutz 2021 eingeführten Bereich „Delegitimierung des Staates“ auf die Demokratie ausgehen.
Er zeigte die Gefahren einleitend an der Behandlung der Ahrtal-Überschwemmung vom 14./ 15. Juli 2021 auf, die vom Verfassungsschutz als Beispiel für eine Delegitimierung des Staates angeführt wurde. Dazu hieß es in dem am 7. Juni 2022 veröffentlichten Verfassungsschutzbericht 2021:

„Gleichwohl ist es wahrscheinlich, dass bekannte Akteure bisheriger Protestinitiativen neue Themen besetzen, um den demokratischen Staat zu delegitimieren. Als Beispiel hierfür kann das Vorgehen einzelner bereits extremistisch in Erscheinung getretener Personen im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe in Nordrhein Westfalen und Rheinland Pfalz genannt werden. Über ein reines Hilfsangebot hinaus wurde versucht, die angespannte Versorgungssituation vor Ort im Sinne einer Delegitimierung staatlicher Strukturen zu instrumentalisieren. Einerseits gerierte man sich hierbei als Kümmerer und sammelte beziehungsweise verteilte Geld und Sachspenden an die örtliche Bevölkerung. Andererseits erweckte man aktiv den Eindruck, dass staatliche Stellen bewusst nur unzureichend an der Verbesserung der Versorgungslage arbeiten würden beziehungsweise mit der Bewältigung der Lage komplett überfordert gewesen seien.“ 5

Prof. Murswiek weist darauf hin, dass bereits am 8. Juli 2022 die Frankfurter Rundschau von einer Kette von Versagen geschrieben hat, die zum Tod von 134 Menschen und weiteren schwer Verletzten führten. Inzwischen scheine das allgemeiner Konsens zu sein, und seit der Veröffentlichung von Polizeivideos aus der Katastrophennacht und dem Rücktritt des rheinland-pfälzischen Innenministers Lewentz Anfang Oktober 2022 gebe es kaum Zweifel mehr, dass die Landesregierung in das Versagen bei der Ahrtal-Katastrophe involviert gewesen sei. Von "Behördenversagen", "Staatsversagen" oder schlicht vom "Versagen" der verantwortlichen Politiker sei jetzt in vielen Presseberichten die Rede.

Daran wird deutlich, wie berechtigt und notwendig hier die Kritik vieler Aktiver vor Ort an Regierung und Verwaltung gewesen war, die nichts mit einer „Delegitimierung“ der Institution als solcher zu tun hat, sondern mit der Unfähigkeit der dort gerade verantwortlich Tätigen. Aber die Kritiker wurden erst mal als staatsgefährdende Extremisten diskreditiert.

Wie beschreibt und begründet der Verfassungsschutz diese „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“? Auf S. 112 heißt es:
„Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen dabei darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Eine derartige Agitation steht im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip."

Wer Demokratie oder Rechtsstaat beseitigen will, so Prof. Murswiek, sei Verfassungsfeind – das stehe außer Frage. Wer diesen Verfassungsprinzipien und den sie in die politische Wirklichkeit umsetzenden Institutionen die Legitimität abspreche, erwecke jedenfalls den Eindruck, eine Beseitigungsintention zu haben. Insoweit sei der Grundgedanke des Konzepts verständlich – auch wenn einzelne oder auch in Gruppen tätige Menschen gar nicht in der Lage seien, den Staat zu delegitimieren. Der Staat sei aus der Perspektive des Grundgesetzes objektiv legitim, solange er den Anforderungen des Artikels 79 Absatz 3 GG genüge, also insbesondere demokratisch und rechtsstaatlich sei.
Und er bringt die Sache auf den Punkt:

„Der Verfassungsschutz aber verwechselt Kritik an der Regierung mit Kritik am Demokratie- und am Rechtsstaatsprinzip. Er sieht "eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten" als Delegitimierung des Staates und deshalb als verfassungsfeindlich an. Mit diesem Vokabular weicht er die Grenzen juristisch fassbarer Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung auf und ermächtigt sich selbst dazu, oppositionelle Bestrebungen als extremistische Bestrebungen zu bewerten. Im demokratischen Staat gehört es zum Wesen der Opposition, Kritik an der Regierung zu üben. Es ist das verfassungsrechtlich verbürgte Recht der – parlamentarischen und der außerparlamentarischen – Opposition, alles zu kritisieren, was die Regierung macht – ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht. Ob sie berechtigt ist oder nicht, entscheidet nicht der Verfassungsschutz, sondern das entscheidet jeder für sich, insbesondere an der Wahlurne.“

Und wenn der Verfassungsschutz von "Agitation" statt von Kritik spreche, dann sei das eine Parteinahme für die Regierung. Jeder sei berechtigt, auch heftige Kritik an der Regierung zu üben. Kritik sei das Lebenselixier der Demokratie. Sie als "Agitation" zu verunglimpfen, stehe dem Verfassungsschutz nicht zu. "Ständige" Kritik sei nicht nur erlaubt, sondern werde von der demokratischen Opposition geradezu erwartet. Nur mit These und Antithese, Kritik und Gegenkritik entfalte sich ein demokratischer Diskurs.

Ebenso sei kein Extremist, wer die „demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten“ verächtlich mache. Kritik – auch nicht heftige, polemische und ständig wiederholte Kritik – an Parteien, Politikern, Amtsinhabern als solche sei nur dann verfassungsfeindlich, wenn sie sich ihrem Inhalt (nicht notwendig ihrem Wortlaut) nach gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richte.

Mit dem "Verächtlichmachen" habe der Verfassungsschutz einen Gummibegriff gewählt, der sich beliebig biegen lasse. Werde die Außenministerin "verächtlich gemacht", wenn jemand sich über ihre häufigen Sprachschnitzer mokiere? Es auch kein "Verächtlichmachen", wenn der Eindruck erweckt werde, das staatliche Krisenmangement sei bei der Ahrtal-Katastrophe "komplett überfordert" gewesen.
Der Verfassungsschutz habe sich darauf zu beschränken, solche Äußerungen als "delegitimierend" anzuprangern, mit denen implizit die Demokratie angegriffen werde. Doch werte er bereits heftige Kritik an der Regierungspolitik – zumindest bei "ständiger Agitation" – als delegitimierend und daher extremistisch.

„Wenn Bundesinnenministerium und Bundesamt für Verfassungsschutz der Meinung sind, dass der Staat und seine Institutionen schon dann in ihrer Legitimität infrage gestellt werden, wenn jemand in bezug auf eine konkrete Situation von "Versagen" oder "Totalversagen" der politisch Verantwortlichen spricht, dann haben sie nicht verstanden, was das Demokratieprinzip ausmacht.“
Es könne auch nicht darauf ankommen, ob der gegen die Regierung gerichtete Vorwurf des Versagens berechtigt sei oder nicht. Das Innenministerium (oder der ihm unterstellte Verfassungsschutz) sei kein Wahrheitsministerium. Ob ein politischer Vorwurf berechtigt ist oder nicht, sei in der Demokratie Sache des politischen Streits, nicht obrigkeitlicher Entscheidung.

„Das Konzept "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" hat einen berechtigten Kern. Der ist nicht neu. Die Gefahr dieses Konzepts und des neuen "Phänomenbereichs" besteht in seiner Überdehnung, die in der vom Verfassungsschutz gewählten Begrifflichkeit – "ständige Agitation",
"Verächtlichmachung" – angelegt ist. Wenn der Verfassungsschutz heftige Kritik an der Regierungspolitik als "delegitimierend" und daher extremistisch aus dem demokratischen Diskurs verdrängen will, dann verfehlt er nicht nur seine Aufgabe, sondern wird damit selbst zum Problem für die Demokratie. Die Regierung muss Kritik aushalten. Und sie kann Kritik, die sie für unberechtigt hält, selbstverständlich – mit Gegenkritik – zurückweisen. Die Möglichkeit freier Kritik an der Ausübung von Staatsgewalt durch staatliche Funktionsträger gehört zur Essenz der Demokratie. Mit der Anprangerung "ständiger Agitation" gegen die Regierung als angeblich den demokratischen Staat delegitimierend versucht der Verfassungsschutz, oppositionelle Strömungen zu delegitimieren. Solche hoheitlichen Eingriffe in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung sind mit dem Demokratieprinzip und mit der Meinungsfreiheit unvereinbar.“

Der Verfassungsschutz sage zwar, dass es ihm nicht darum gehe, "legitime" Protestaktionen gegen die Corona-Maßnahmen zu diskreditieren. Aber im demokratischen Staat sei grundsätzlich jeder Protest gegen Regierungsmaßnahmen legitim. Das Konzept der "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" habe ein falsches Design, wenn es "ständige Agitation und Verächtlichmachung" als entscheidende Kriterien für extremistisches Verhalten herausstelle. Hier würden die Weichen für eine Bewertungspraxis gestellt, die jede Protestbewegung als angeblich den Staat delegitimierend anprangern könne. Das sei undemokratisch und müsse korrigiert werden.

Mit anderen Worten: Damit verstößt der Verfassungsschutz selbst gegen das Demokratieprinzip der Verfassung und „delegitimiert“ sich somit selber.

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Quelle mit Anmerkungen:

https://fassadenkratzer.wordpress.com/2023/02/03/mit-dieser-delegitimierung-des-staates...


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