Der Preis des Charakters

Tempranillo, Montag, 06.04.2020, 14:40 (vor 1483 Tagen) @ Tempranillo1031 Views
bearbeitet von Tempranillo, Montag, 06.04.2020, 15:32

Hast Du gelesen, was Michael Klonovsky neulich Hervorragendes geschrieben hat, das auf die kulinarischen Ebene überträgt, was er über Mozart, Schubert, Chopin, Wagner, Richard Strauß und Alfred Cortot sagt?

Mit einem Wein bin ich – ungefähr wie mit einem Menschen – zufrieden, wenn er Charakter oder zumindest etwas Charakteristisches besitzt, einen Körper hat, seine Herkunft offenbart, nicht parfümiert ist, sondern eher etwas spröde und unverhurt, wenn in ihm die lokalen Gottheiten leben. Nichts ist schrecklicher als herkunftslose, geschönte und glatte Einheitsweine, aus denen nichts als ihre Plantagenherkunft und die Schminkkunst des Kellermeisters spricht.

Es gibt leider ein kleines Problem: charaktervolle Weine sind nicht ganz billig, und wenn sie aus Bordeaux oder Burgund kommen, muß man pro Flasche mit 75 bis 100 € und mehr rechnen.

Charakter hat eben seinen Preis. Der reicht von gerade noch erschwinglich, wie bei Wein und Käse, bis unbezahlbar, wenn es um Geschichte, Politik und Kunst geht.

In Fragen der Geschichte und Politik charakterfest zu sein, sich an Tatsachen zu halten und größtmögliche Ehrlichkeit zu praktizieren, kann sehr schnell die Existenz kosten, vor Gericht, ins Gefängnis und auf den Friedhof führen.

Geht es um Kunsthandwerk, Antiquitäten und alte Streichinstrumente, erreichen die Preise zweistellige Millionenhöhe. In diesen Höhen bewegen sich die Versteigerungen der Instrumente Stradivaris und Guarneris.

Kunst ist auf andere Weise, je nachdem, wer sich damit beschäftigt, extrem teuer, manchmal unbezahlbar.

Die besten Werke der europäischen Architektur, Malerei, Bildhauerei und Gartenbau kann man sich nicht anders zugänglich machen, als mindestens ein halbes, eher ganzes Jahr lang die wichtigsten Städte und Regionen Frankreichs, Italiens, Spaniens, Österreichs, Tschechiens und Rußlands zu bereisen. Die wenigstens ungefähre Kenntnis Deutschlands habe ich vorausgesetzt.

Für Literatur, Soziologie und Geschichte sind Französischkenntnisse unerläßlich. Wer das in seiner Schulzeit aus welchen Gründen auch immer verpaßt hat und später nachholen möchte, sollte für 15-20 Sprachkurse am Institut français jeweils 250 € einplanen. Hinzu käme ein Zeitschriftenabonnement, um sich an Wortschatz und Grammatik zu gewöhnen.

Am günstigsten in finanzieller Hinsicht ist noch die Beschäftigung mit Europas Komponisten. Doch auch hierbei gibt es mehrere gewaltige Haken:

Man muß imstande sein, sich vom stumpfsinnigen Anglokrach zu lösen und zu akzeptieren, daß man es auch anders und bestimmt nicht schlechter machen kann als Elvis, Beatles und Stones, und es damals, im 17., 18., 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts, eben anders gewesen ist, aber, versetzt man sich in die jeweilige Zeit zurück, nicht weniger, eher deutlich unkonventioneller und revolutionärer als in unseren veramerikanisierten Zeiten.

Wo es bei Literatur, Soziologie und Geschichte nicht ohne Französisch geht, verlangt der bayrisch-österreichische, also deutsche Mozart, daß man einigermaßen problemlos Italienisch versteht.

Da die wie kaum eine ander Kunstgattung ureuropäische Oper, machen wir uns nichts vor, in erster Linie Italienisch ist, und überall auf der Welt die Werke Rossinis, Bellinis, Donizettis, Verdis und Puccinis in Originalsprache aufgeführt werden, kommt man an Italienisch nicht vorbei, es sei denn, man beschränkt sich auf Werke, die deutsche oder englische Texte zum Gegenstand haben.

Das einzigartig charaktervolle Europa hat also, wie ich versucht habe zu belegen, seinen Preis. Dieser ist erheblich; manchmal so hoch, daß einem schwindlig werden kann.

Trotzdem meine ich, dieser Preis ist es wert. Für ihn müssen nicht erst 500.000 Kinder durch eine von den USA inszenierte Hungersnot sterben. In der Regel, wenn es nicht gerade um eine lange Bildungsreise oder die Anschaffung eines alten Streichinstruments geht, besteht er in nichts anderem als ein wenig Vorurteilsfreiheit und der Bereitschaft, dazuzulernen, wenn nötig, ein Leben lang.

Tempranillo

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*Die Demokratie bildet die spanische Wand, hinter der sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr finden sie das beste Verteidigungsmittel gegen eine etwaige Empörung des Volkes*, (Francis Delaisi).


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