Kleine Grammatik – aus einem Roman von George Orwell

nereus, Donnerstag, 16.01.2020, 13:00 (vor 1534 Tagen) @ Albatros3548 Views

Hallo Albatros!

Du schreibst: Mir erschliesst sich die Absicht nicht, welcher Zweck damit verfolgt wird, wenn z.B. aus den früheren Schurnalisten (von Journalist) sprachlich nun Tschurnalisten geworden sind. Ist das etwa eine aussprachliche Anbiederung an den (englischsprachigen) Internationalsozialismus?

Es ist ggf. der erste Schritt dorthin, aber wohl eher schon der Zweite.
Möglicherweise erkennen hier einige Leser ganz zufällig Entwicklungen, die seit längerer Zeit aus „unerfindlichen“ Gründen in unseren Alltag einsickern.
Man wundert sich zwar, kann aber wenig damit anfangen, außer die Frage zu stellen: Sind DIE eigentlich alle verrückt geworden. [[hae]]

Nein, das sind sie nicht.
Und hier ist der Beweis.

Die Neusprache war die in Ozeanien eingeführte Amtssprache und zur Deckung der ideologischen Bedürfnisse des ENGSOZ - gemeint wurde damit der Englische Sozialismus - erfunden worden. Sie hatte nicht nur den Zweck, ein Ausdrucksmittel für die Weltanschauung und geistige Haltung zu sein, die den Anhängern des ENGSOZ allein angemessen war, sondern darüber hinaus jede Art anderen Denkens auszuschalten.

Wenn die Neusprache erst ein für allemal angenommen und die Altsprache vergessen worden war (etwa im Jahre 2050), sollte sich ein unorthodoxer – d. h. ein von den Grundsätzen des ENGSOZ abweichender Gedanke – buchstäblich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist.

Der Wortschatz der Neusprache war so konstruiert, daß jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen wollte, eine genaue und oft mehr differenzierte Form verliehen werden konnte, während alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden, ebenso wie die Möglichkeit, etwa auf indirekte Weise das Gewünschte auszudrücken.
Das wurde als durch die Erfindung neuer, hauptsächlich aber durch die Ausmerzung unerwünsch¬ter Worte erreicht, und indem man die übriggebliebenen Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete.

Ein Beispiel hierfür: Das Wort frei gab es zwar in der Neusprache noch, aber es konnte nur in Sätzen wie »Dieser Hund ist frei von Flöhen«, oder »Dieses Feld ist frei von Unkraut« angewandt werden.
In seinem alten Sinn von »politisch frei« oder »geistig frei« konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafür vorhanden war.
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Jedes Wort konnte durch Voranstellung von un- in sein Gegenteil umgewandelt oder durch die Voranstellung von plus-oder von doppelplus- gesteigert werden.
So bedeutete beispielsweise unkalt »warm«, während pluskalt oder doppelpluskalt »sehr kalt« oder »überaus kalt« bedeuteten. Auch war es möglich, die Bedeutung fast jeden Wortes durch die Voranstellung von vor-, nach-, ober-, unter- usw. abzuwandeln.
Diese Methode ermöglichte es, den Wortschatz ganz gewaltig zu vermindern.
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Das zweite hervorstechende Merkmal der Neusprach-Grammatik war ihre Regelmäßigkeit. Abgesehen von einigen nachfolgend erwähnten Ausnahmen folgten alle Beugungen derselben Regel. Bei allen Zeitwörtern waren das Imperfektum und das Partizip der Vergangenheit identisch und endeten auf -te. Das Imperfektum von stehlen war stehlte, von denken denkte usw., während alle Formen wie dachte, schwamm, brachte, sprach, nahm abgeschafft waren.
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Der Wortschatz B bestand aus Worten, die absichtlich zu politischen Zwecken gebildet worden waren, d. h. die nicht nur in jedem Fall auf einen politischen Sinn abzielten, sondern dazu bestimmt waren, den Benutzer in die gewünschte Geistesverfassung zu versetzen.
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Kein Wort des Wortschatzes B war ideologisch neutral. Eine ganze Anzahl hatte den Charakter reiner sprachlicher Tarnung und waren einfach Euphemismen. So bedeuteten zum Beispiel Worte wie Lustlager (= Zwangsarbeitslager) oder Minipax (= Friedensministerium – Kriegsministerium) fast das genaue Gegenteil von dem, was sie zu besagen schienen. Andererseits zeigten einige Worte ganz offen eine verächtliche Kenntnis der wahren Natur der ozeanischen Verhältnisse. Ein Beispiel dafür war Prolefutter, womit man die armseligen Lustbarkeiten und die verlogenen Nachrichten meinte, mit denen die Massen von der Partei abgespeist wurden.
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Im Wahrheitsministerium z.B. wurde die Registraturabteilung, in der Winston Smith beschäftigt war, Regab genannt, die Literatur-Abteilung Litab, die Televisor-Programm-Abteilung Telab usw. Das geschah nicht nur aus Gründen der Zeitersparnis.
Schon in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren solche zusammengezogenen Worte charakteristisches Merkmal der politischen Sache gewesen; wobei es sich gezeigt hatte, daß die Tendenz, solche Abkürzungen zu benutzen, in totalitären Ländern und bei totalitären Organisationen am ausgeprägtesten war (Nazi, Gestapo, Komintern, Agitprop). Zunächst war das Verfahren offenbar ganz unbewußt und zufällig in Gebrauch gekommen, in der Neusprache aber wurde es vorsätzlich angewandt. Man hatte erkannt, daß durch solche Abkürzungen die Bedeutung einer Bezeichnung eingeschränkt und unmerklich verändert wurde, indem sie die meisten der ihr sonst anhaftenden Gedankenverbindungen verlor.
Die Worte Kommunistische Internationale z. B. erweckten das Bild einer weltumspannenden Menschheitsverbrüderung, von roten Fahnen, Barrikaden, Karl Marx und der Pariser Kommune.
Das Wort Komintern dagegen läßt lediglich an eine eng zusammengeschlossene Organisation und eine deutlich umrissene Gruppe von Anhängern einer politischen Doktrin denken; es umreißt etwas, das fast so leicht zu erkennen und auf seinen Zweck zu beschränken ist wie ein Stuhl oder ein Tisch. Komintern ist ein Wort, das man fast gedankenlos gebrauchen kann, während man über die Bezeichnung Kommunistische Internationale schon einen Augenblick nachdenken muß.

Quelle: George Orwell, 1984 – ein utopischer Roman, Diana Verlag Zürich 1973, Seite 439 bis 446.

Nun könnte man meinen, daß mit den Laiinnen und Sternchen- oder Doppeltpunkt-Quark ging eher in die andere Richtung, doch man achte auf die bereits umgesetzten Teile des Orwell-Plans.
Ich sehe es als Vorstufe einer weiteren Sprachreform, nach dem Motto zwei Schritte nach vorn und einen zurück.

mfG
nereus


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