BREXIT-News: das Urteil des britischen Obersten Gerichts in Sachen Parlamentsbeteiligung bei den EU-Austrittsverhandlungen

Literaturhinweis, Mittwoch, 25.01.2017, 18:46 (vor 3247 Tagen) @ Literaturhinweis2517 Views

In einer ersten Pressemitteilung über das mit einer klaren 8:3-Mehrheit zustandegkommene Urteil führt das britische Supreme Court aus:

"The principal issue in these appeals is whether such a Notice can, under the UK’s constitutional arrangements, lawfully be given by Government ministers without prior authorisation by an Act of Parliament."

Das war der im Vorbeitrag genannte 'Knackpunkt': darf im Rahmen der UK-Verfassung die Regierung im Alleingang und ohne förmliches Gesetz Austrittsverhandlungen führen und, vor allem, en detail ausgestalten? Das wäre, wie ausgeführt, schon ein rechtes Unding angesichts der tausende tangierten Rechtsvorschriften, die alle vom selben Parlament beschlossen wurden, auf die sich sämtliche Regierungen stützen und käme einem Staatstreich gleich. Ein Staatstreich in einer Demokratie ist regelmäßig begleitet von der Usurpation der legislativen und judikativen Rechte seitens der Exekutive; ErdoÄŸan macht das in der Türkei gerade vor, er hat sich das bei Hitler und seinem Ermächtigungsgesetz abgeguckt. Frau Premierministerin May hat gerade ein paar Nachhilfestunden in parlamentarisch-konstitutioneller Demokratie bekommen.

Wie beschrieben geht es um die Frage, inwieweit das Beitrittsgesetz 1972 (ECA) der Regierung bereits eine Vollmacht auch zum erneuten Austritt gegeben habe (was äußerst ungewöhnlich wäre in egal welchem völkerrechtlichen Vertrag):

"The claimants submit that, owing to the well-established rule that prerogative powers may not extend to acts which result in a change to UK domestic law, and withdrawal from the EU Treaties would change domestic law, the Government cannot serve a Notice unless first authorised to do so by an Act of Parliament. Resolution of this dispute depends on the proper interpretation of the European Communities Act 1972 (‘the ECA’), which gave domestic effect to the UK’s obligations under the then existing EU Treaties, together with subsequent statutes, which gave effect to and related to later EU Treaties, and the European Union Referendum Act 2015."

Zudem ging es um die Frage, ob die Rechtsstellung von Schottland und Nord-Irland im komplizierten UK-Staatenverbund, insbesondere im Lichte der stattgehabten 'devolution', der Ermächtigung der UK-Regionen, den einzelnen 'Länder'-Parlamenten zudem ein Mitsprache- gar ein Veto-Recht einräume. Letzteres hat das Supreme Court immerhin verneint, die Hoffnung der schottischen Parlamentarier (überwiegend pro-EU) hat sich damit nicht erfüllt.

"In a joint judgment of the majority, the Supreme Court holds that an Act of Parliament is required to authorise ministers to give Notice of the decision of the UK to withdraw from the European Union. ... The Supreme Court considers that the terms of the ECA, which gave effect to the UK’s membership of the EU, are inconsistent with the exercise by ministers of any power to withdraw from the EU Treaties without authorisation by a prior Act of Parliament ... The fact that withdrawal from the EU would remove some existing domestic rights of UK residents also renders it impermissible for the Government to withdraw from the EU Treaties without prior Parliamentary authority "

Aber auch die drei 'dissenting judges' sagen im wesentlichen dasselbe, nämlich daß die konkreten Umsetzungsgesetze, die nötig sind, um die im Verhandlungswege bei den Austrittsverhandlungen obsolet werdenden EU-Vorschriften abzuschaffen, weiterhin der Zustimmung des britischen Parlaments bedürfen.

Die abweichende Meinung bezieht sich rein auf die Frage, ob die Regierung das Austrittsgesuchen als solches aufgrund eines Privilegs der Exekutive aussprechen dürfe oder nicht ('royal prerogative'). Im Ergebnis hätten beide Rechtsansichten dasselbe bewirkt: das Parlament muß jeden einzelnen Schritt am Ende per Gesetz gutheißen. Insofern wäre die britische Regierung in jedem Falle gut beraten, jeden einzelnen Vertragsentwurf bereits in der Phase seines Entstehens zusammen mit den jeweils für das Sachgebiet zuständigen Parlamentsaussschüssen zu beraten und abzustimmen. Es ergäbe wenig Sinn, in Brüssel etwas vorzuschlagen, von dem man annehmen darf, das Parlament würde es am Ende nicht (in der Form) ratifizieren!

Nett, daß das Supreme Court dann gegen Ende den Link zu seinen ergangenen Entscheidungen setzt:

https://www.supremecourt.uk/decided-cases/index.shtml

und dieser dann auf folgende Meldung führt:

"The resource you are looking for has been removed, had its name changed, or is temporarily unavailable."

Der (Br)Exit fängt gut an ...

(In Wahrheit muß der Link lauten: https://www.supremecourt.uk/decided-cases/ und dann kommt man auch zum Eintrag https://www.supremecourt.uk/cases/uksc-2016-0196.html und von dort zum Urteil https://www.supremecourt.uk/cases/docs/uksc-2016-0196-judgment.pdf mit 97 Seiten. Siehe Punkt 23 auf Seite 9: 1975 gab es schon mal eine Abstimmung, in der sich die Mehrheit der abstimmenden UK-Bürger damals für den Verbleib in den [damals so genannten] Europäischen Gemeinschaften [EG] entschied.)

Der Punkt, warum die Gerichtsmehrheit wohl vor allem den Parlaments-Vorbehalt gegeben sieht, ist, daß, siehe Punkt 26 auf Seite 10, wenn der Außenminister den anderen EU-Staaten gegenüber einmal die Erklärung zum Austritt abgegeben hat, diese Erklärung nach dem Wortlaut des Art. 50 des Lissabon-Vertrages nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Punkt 35, Seite 13: "... ministers’ intentions are not law, and the courts cannot proceed on the assumption that they will necessarily become law."

Ebenda: "36. The applicants’ case in that connection is that when Notice is given, the United Kingdom will have embarked on an irreversible course that will lead to much of EU law ceasing to have effect in the United Kingdom, whether or not Parliament repeals the 1972 Act."

D.h., nachdem der Minister das Austrittsgesuch eingereicht hat, werden im Verlauf von regelmäßig drei Jahren selbst dann alle EU-Vorschriften gegenstandslos, wenn das Parlament dem im Einzelnen hätte widersprechen oder das Austrittsgesetz in der Form nicht hätte annehmen wollen. Es geht also darum, daß das Parlament ein Vorbehaltsrecht hätte (wie bei allen durch Gesetze inkraft zu setzenden Verträgen, dieses aber nicht mehr ausüben könnte, da der EU-Vertrag, Art. 50, genau das dann nicht mehr vorsieht).

Punkt 43, Seite 15: "The legislative power of the Crown is today exercisable only through Parliament." und das alles geht schon auf die legendäre Bill of Rights zurück: "“the pretended power of suspending of laws or the execution of laws by regall authority without consent of Parlyament is illegall” and that “the pretended power of dispensing with laws or the execution of laws by regall authoritie as it hath beene assumed and exercised of late is illegall”. In Scotland, the Claim of Right 1689 was to the same effect, providing that “all Proclamationes asserting ane absolute power to Cass [ie to quash] annull and Dissable lawes ... are Contrair to Law”" ... und es würde einem in der jahrhundertealten Tradition anglo-amerikanischer Rechtsfindung erzogenen Gericht schlecht anstehen, dieses Prinzip auch nur anzutasten.

Punkt 54, Seite 19: "There is little case law on the power to terminate or withdraw from treaties, ..." - es handelt sich somit um eine 'landmark decision', um einen, gerade im britischen Recht, dem case law, wichtigen Präzedenzfall; hätte man diesen anders entschieden, hätte dies -auf Jahrhunderte!- unabsehbare Konsequenzen haben können, was die schleichende (weitere) Schwächung des Parlamentsvorbehaltes betrifft.

Etwas anderes ist es bei 'reinen' völkerrechtlichen Verträgen, Punkt 55, Seite 19: "The second proposition is that, although they are binding on the United Kingdom in international law, treaties are not part of UK law and give rise to no legal rights or obligations in domestic law." D.h., wenn ein völkerrechtlicher Vertrag keine Bindungswirkungen im Inland ausübt (also letztlich nur die Regierung bindet), so kann ein Minister/die Regierung hier allein über dessen Abschluß oder Kündigung entscheiden, da die Entscheidung kein innerstaatliches Recht betrifft (hier ist das Grundgesetz etwas anderer Ansicht) - das aber genau trifft auf den EU-Vertrag nicht zu, dessen Zweck es ja gerade ist, der EU indirekt Gesetzgebungsbefugnis im Inland zu übertragen, insofern deren Maßnahmen 'zügig' jeweils in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Daher, ebenda, Punkt 56: "It is only on the basis of these two propositions that the exercise of the prerogative power to make and unmake treaties is consistent with the rule that ministers cannot alter UK domestic law."

Punkt 58, Seite 20: "While ministers have in principle an unfettered power to make treaties which do not change domestic law, it had become fairly standard practice by the late 19th century for treaties to be laid before both Houses of Parliament at least 21 days before they were ratified, to enable Parliamentary objections to be heard." (vgl. auch Ponsonby convention aus den 1920er Jahren weiter unten im Urteilstext)

Die folgenden ca. zwei Drittel des Texts befassen sich dann mit detaillierten Abwägungen, die aber nichts mehr wesentlich am vorgenannten ändern.


Siehe auch allgemein "BREXIT: Was der Buchmarkt zum United Kingdom, dem EU-Referendum, der UKIP, Nigel Farage, Margaret Thatcher oder Cameron sagt"

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