'Psychotherapie ist intellektuell so gestrickt, dass sie sich auf einem 64 kB Rechner unterbringen lässt' - Kleiner Einspruch

Literaturhinweis, Montag, 13.03.2017, 11:28 (vor 2573 Tagen) @ aliter4868 Views
bearbeitet von unbekannt, Montag, 13.03.2017, 11:34

Schön, dass Du diese Programm erwähnst. ... Die Psychotherapie ist intellektuell so gestrickt, dass sie sich auf einem - ich glaube damals - 64 kB Rechner unterbringen lässt.

Das Gebiet der Psychotherapie ist m.E. zu komplex, um es mit einem Satz "Psychotherapie ist ..." zu umschreiben.

Ich erinnere mich heute noch lebhaft an eine Radio-Diskussion ganz zu Anfang der siebziger Jahre mit u.a. Alexander Mitscherlich. Damals war ja die Zeit des Aufbruchs nach den 68er Studentenunruhen und 'alles' wurde kritisch hinterfragt. So unterstellten viele der Psychoanalyse 'systemstabilisierende' Usancen, da das Individuum 'auf sich geworfen' werde und die Probleme bei sich zu suchen angeleitet werde, statt zu 'begreifen', daß es 'die Gesellschaft' sei, Ausbeutungsverhältnisse, die ganze Leier, die 'es' kaputtmache ('macht kaputt, was Euch kaputtmacht' - kurz darauf die eher unenglische Parole 'Burn, warehouse, burn' von Baader und Ensslin und schließlich der jahrelange Kleinkrieg der RAF bundesweit).

Die Namen der andern Diskutanten sind mir entfallen und sicher außer Mitscherlich heute auch allgemein dem holden Vergessen anheimgefallen, bis eben auf den Mitscherlich.

Die Anmoderation war einem dieser Mitdiskutanten überlassen, der den ersten Satz so begann: "Psychoanalyse, so, wie wir sie kennen ...", worauf Mitscherlich ihm ins Wort fiel mit der Frage "Woher kennen Sie sie denn?". Danach folgte das, was man im Englischen 'uncomfortable silence' nennt und dann ging das Herumgeeiere los.

Will sagen: das Gebiet ist zu komplex, und hat gerade seit den siebziger Jahren sich derart aufgefächert, daß man schlicht von 'die Psychotherapie' nicht mehr sprechen kann oder darf.

Nun ist es nicht so, daß ich Verfechter der Psychoanalyse bin, wofür es die verschiedensten Gründe gibt. Aber auch Psychoanalyse würde ELIZA nicht 'können', denn der Analyst will ja das 'freie Assoziieren' befördern (jedenfalls in der 'klassischen' Form, die direkt auf Freud zurückgeht), ELIZA würde ja 'viel zu viel reden'.

Nein, das was ELIZA und andere ähnliche Programme machen, ist am ehesten noch mit der Gesprächstherapie nach Schulz-von Thun zu vergleichen, bei der es darum geht, dem Klienten seine jeweiligen Aussagen 'zurückzuspiegeln'. Und in der Tat kommen dort ähnliche Dialoge dabei heraus, etwa, wenn der Klient sagt "Ich fühle mich bedrückt" und der Therapeut dann entweder sagt "Sie meinen, auf Ihnen liegt eine Last?" oder "Was bedrückt Sie denn?" u.v.a. solche eingeübten 'Interventionen'. Bei 'was bedrückt sie denn?' kann es sich aber bereits um einen REBT-Therapeuten handeln.

Diese (je nach psychiatrischem Fallbild) durchaus heilsamen Interventionen basieren in ihrer Wirkung großenteils darauf, daß sie zur Ich-Stärkung beitragen können, und oft empfindet sich der Patient 'das erste Mal wirklich verstanden'. So paradox das klingt, aber genau das kann ein Computerprogramm, dem ein grundlegendes Verständnis grammatischer Strukturen eignet, eben auch. Da die meisten Psychotherapien darauf basieren, den Menschen seine Probleme letztlich selbst lösen zu lassen (ein hypnoanalytisches Beispiel hatte ich gegeben), und daher der überwiegende Teil der Heilung im Patienten selbst stattfindet, sind spürbare Fortschritte durchaus in vielen Fällen möglich.

Bei den genannten Apps und schon bei ELIZA kommt hinzu, daß Computer endlos geduldig sind. Ein Computer tut das, wofür er programmiert wurde und wenn die CPU nicht durchbrennt, tut er das 'auf ewig' (weshalb ein Betriebssystem kein Algorithmus ist - denn Algorithmen kennen Abbruchkriterien).

Was aber passiert beim normalen Versuch, eine psychotherapeutische Behandlung mit einem menschlichen Therapeuten zu buchen? Zuerst ist da die Sekretärin am Telefon, dann stellt der verzweifelte Patient fest, daß frühestens in vier Monaten ein Ersttermin möglich ist. Davor liegt noch der Antrag auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Dann wird das erstmal auf z.B. acht Sitzungen begrenzt, was nachweislich dazu führt, daß ein unsicherer Patient u.U. alles tut, um eine Verlängerung genehmigt zu bekommen, indem er die durchaus rasch mögliche Bearbeitung seines Problems so hinauszögert, daß das 'Gutachten' eine deutliche Verlängerung gegenüber der Krankenkasse befürwortet. Auch hier wieder: das System der staatlich regulierten 'Kranken'-Versicherung pfuscht dazwischen, die Fallpauschale läßt grüßen, nur auf andere Weise.

Es gibt also m.E. durchaus wirksame Psychotherapie-Formen und diese gehen weit über das hinaus, was Computer bisher leisten können und vielleicht auch jemals werden leisten können. Ich gehe sogar soweit, zu sagen, daß erfolgreiche Psychotherapie der ultimative Turing-Test sein könnte. Denn bei NLP und Hypnose z.B. ist es mit dem 'Daherreden' nicht getan, sondern der Therapeut muß auf eine Vielzahl von Anzeichen achten, wie Hauttemperatur und -farbe, Atemfrequenz, Mimik, unwillkürliche Zuckungen ('twitches') usw. Nicht umsonst beschleicht den unbefangenen Betrachter z.B. bei der Beobachtung von Koryphäen wie dem legendären Milton Erickson das Gefühl, dabei sei Telepathie im Spiel. Es ist nichts anderes und nicht 'mehr', als es auch die sog. Mentalisten vermögen. Ob aber ein Computer das so einfach nachahmen kann, daran habe ich meine Zweifel. Lügendetektoren jedenfalls sind nach einem halben Jahrhundert 'Entwicklung' immer noch notorisch unzuverlässig und mit ein Grund für so viele Fehlurteile in den USA.

Was aber selbst ein wirklich erfahrener Gesprächstherapeut einem weiterentwickelten Programm wie ALICE voraus hat, ist das 'Verständnis' der Aussagen seines Gegenüber. ELIZA und Konsorten neigen dazu, sich in Wiederholungsschleifen zu verfangen, wenn sie mit dem reinen Spiel der grammatischen Umsortierung nicht vorankommen, was man auch gut an manchen veröffentlichten 'Chat-Protokollen' beobachten kann. Sie 'treiben' also die Sache nicht 'voran', so angenehm gerade das einem 'Patienten' erscheinen mag, denn er/sie wird nicht 'konfrontiert' - was aber in einer solchen Therapie ein entscheidendes Handwerkszeug ist. Dieses 'Konfrontieren' kann m.E. nur ein Mensch leisten, und zwar ein entsprechend ausgebildeter und erfahrener. Leider heißt das nicht, daß sich hinter jedem Namen unter dem Abschnitt 'Psychotherapie' in den Gelben Seiten auch ein solcher verbirgt.

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