Alternativen zur Pharmako-Schmerztherapie

Literaturhinweis, Dienstag, 03.01.2017, 15:10 (vor 2642 Tagen) @ 4050 Views
bearbeitet von unbekannt, Dienstag, 03.01.2017, 15:38

Aus diesem Grunde

Mich nerven die vielen - oft völlig unqualifizierten - Postings. Diese helfen nicht, sondern schaffen Verwirrung in einer Notlage.

wollte ich eigentlich nichts schreiben.

Da aber von @Vatapitta ebenso wie von @DerSuchende die relevanteren Aspekte zur palliativen Schmerz-Behandlung dargestellt wurden (eine Ferndiagnose und -therapie zum Krebs als solchem halte ich für äußerst fragwürdig und daher beteilige ich mich auch nicht daran - prominente Beispiele aus der 'alternativen' Szene der letzten Jahre zeigen einfach überdeutlich, daß diese bestaunten Figuren mit den Patienten der Schulmedizin ein Schicksal teilen - sie starben ebenso und genauso schnell, nur vielleicht 'gefühlvoller' - ein Vorwurf, den man vielen schulmedizinischen Instituten sicher machen kann ist, daß sie, insbes. in Zeiten der Fallpauschalen, den Patienten mehr als Objekt denn als Menschen behandeln. Andere aber leider behandeln den Menschen als Mensch aber ... behandeln ihn nicht. Aus diesem Gewirr der Geschmacksachen muß jeder seinen eigenen Weg finden.), hier eine evtl. Alternative.

Ein Aspekt aber, der sowohl in der Traditionellen Chinesischen Medizin wie in der Schulmedizin, auch bei den Alternativmedizinern und denen, die 'Naturheilkunde' auf ihre Schilder pappen, nahezu völlig unbekannt ist, ist, daß das Mysterium der Schmerzstimulation und -unterdrückung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits vollständig aufgearbeitet und -im praktischen Sinne- 'gelöst' war. Man weiß zwar heute dank Computertomographie und kranieller Stimulation mehr über das Nervensystem als damals, aber über dessen Beeinflussungsmöglichkeiten erstaunlicherweise in der Praxis weniger als damals - jedenfalls in der Breite der medizinischen und forschenden Professionen.

Der britische Militärchirurg James Esdaile hat erfolgreich eine wohl drei- oder vierstellige Anzahl Operationen ohne jegliche Analgetika/Anästhetika durchgeführt (die es damals praktisch nicht gab, oder deren Wirkung noch nicht erkannt war, wie beim Chloroform, oder die später dennoch unter militärischen Feldbedingungen nicht ausreichend zur Verfügung standen). Interessanterweise, obwohl der Esdaile-Zustand seitenweise Suchergebnisse auch in deutscher Sprache hervorbringt, gibt es nicht mal einen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zu ihm, wohl aber einen hinreichend ausführlichen in Englisch. Allerdings war der Begriff der Hypnose damals nicht allgemein geläufig, die Forschungen von James Braid liefen zu Esdailes 'mesmerischen' Praktiken historisch parallel. In diese Details jetzt aber hier und heute einzusteigen würde ein Buch erfordern und dem Patienten auch wenig helfen. Hier ein weiterer Beitrag auf wikisource. Nur soviel sei gesagt: auch wenn die moderne Hypnotherapie vom Esdaile-Zustand spricht, so sind die Methoden zu dessen Einleitung heute nicht wiederzuerkennen, da man gemerkt hat, daß der gesamte 'mesmerische Überbau' zwar hilft, gerade beim beeindruckbaren oder 'abergläubischen' Menschen in eine Trance und von dort aus tiefer zu gelangen, jedoch unnötig und zeitraubend ist und natürlich die ganze Branche in Verruf brächte, wenn man heute noch in derart 'schamanischer' Weise versuchte, einem Durchschnitts-Patienten gegenüberzutreten.

Die Tragik für die Patientenschaft weltweit hinsichtlich dieser wirksamen und eleganten (wenn auch aus heutiger Sicht verbesserungswürdigen) Methode ist, daß just zu dem Zeitpunkt, als Esdaile mit seinen Forschungen so weit war, daß er nun hätte im Zivilleben diese Methoden lehren können, mit dem Siegeszug des Chloroform, das zwar schon früher entdeckt, aber noch nicht angewendet worden war, scheinbar die Notwendigkeit für alle anderen Methoden wegfiel. Zum gleichen Zeitpunkt, beginnend etwa mit der Gabe von Brom, begann auch die Psychiatrie sich von 'geistigen' Methoden abzuwenden und begann mit den Psychopharmaka ('Mother's little helper' - vor allem Barbiturate) zu experimentieren. Eigentlich ist gegen den bewußten, gezielten und sparsamen Einsatz von Psychopharmaka oder Analgetika auch nichts zu sagen, wie auch nicht gegen orthopädische Einlagen, außer, daß ein Orthopädieschuhmachermeister eher weniger zu Sport rät und ein Pharmakologe weniger zu Psychotherapie.

Wer sich aber Standardwerke der Psychopharmaka-Therapie anschaut, dem stehen, wenn er sie mit der aktuellen Verordnungspraxis vergleicht, regelrecht die Haare zu Berge (das gilt generell für die Pharmakotherapie). In der Schmerzmedizin ist das leider zu größen Teilen auch so, das hat mittlerweile sogar Medien wie z.B. die FAZ erreicht, in der führende Schmerzmediziner den weniger feinfühligen Kollegen vorwerfen, zu wenig, zu spät und oft die falschen Mittel zu applizieren, und selbst wenn, dabei zu übersehen, daß nicht alle Menschen dasselbe Gewicht und Geschlecht aufweisen. Schmerzpatienten sind jedoch durch ihre Schmerzen derart blockiert und mit sich beschäftigt, daß sie, anders als z.B. HIV-Patienten und andere in lautstarken Selbsthilfe- und Patientenlobbygruppen organisierte Erkrankte, es i.d.R. nicht mal mehr schaffen, aufzubegehren (und dann auch nicht recht wüßten, gegen was - ist doch alles 'Schicksal')

Hinzu kommt, daß das deutsche Vergütungssystem sich immer noch stiefmütterlich um die Versorgung von Schmerzpatienten und Palliativ-Medizin kümmert, so daß die EU ein reiner Flickenteppich ist, was Palliativmedizin angeht, Deutschland aber mit Sicherheit nicht als gutes Beispiel vorangeht, bisher.

Aber hier geht es ja um Rußland. Während China mit der TCM in Kombination mit der Schulmedizin meint, recht gut aufgestellt zu sein, und daher, meiner Kenntnis nach, bisher wenig mit Hypnose anfangen zu können scheint, fallen an's "Mystische" gemahnende Heilmethoden in Rußland noch am ehesten auf fruchtbaren Boden - Abgleiten in Scharlatanerie natürlich inklusive. Ich schreibe diesen Beitrag daher nur, weil ich mir denke, a) die schulmedizinische, insbesondere palliativmedizinische Versorgungsstruktur dürfte in Rußland unterentwickelt sein, während es b) anderseits möglich wäre, dort vielleicht einen Hypnotherapeuten (aber Nicht-Scharlatan) zu finden, der sich darauf versteht, einen schmerzfreien Dauerzustand zu induzieren.

Wenn wir schon dabei sind, soll nicht unerwähnt bleiben, daß sich die Hypnose seit Esdaile weiterentwickelt hat, zuerst allerdings nur, was die Einleitung der Hypnose betrifft ('inductions'), d.h. es gibt mittlerweile Sekundenverfahren (wer's "drauf hat"), wo früher (und heute noch viele) Hypnose-Spezialisten eine halbe Stunde oder gar mehrere Sitzungen brauchten, um in die entsprechenden kataleptischen und Esdaile-Zustände vorzudringen. Sucht man Literatur zu Hypnose, so quellen die Regale mittlerweile zwar über, aber das bedeutet leider nicht, daß es sich um Qualität handeln muß; daß bei Amazon direkt darüber dann besondere "Empfehlungen" zu L. Ron Hubbard und Scientology eingeblendet werden, zeigt drastisch, wie arg die Koordinaten auf diesem ansonsten durchaus ernstzunehmenden Gebiet der Medizin in der öffentlichen Wahrnehmung verschoben sind.

Der noch tiefere Zustand nach Esdaile, der aber noch um Anerkennung in der recht konservativ gewordenen medizinischen Hypnosegemeinde kämpft, ist der Sichort-State, dem auch direkte Heilwirkungen zugesprochen werden, etwa eine Beschleunigung der Wundheilung um bis auf das Zehnfache und die Remission bei bestimmten chronischen Erkrankungen. Der in USA vom mittlerweile verstorbenen Sichort als "ultra-depth" bekannt gewordene tiefere Zustand 'jenseits von Esdaile' wird mittlerweile von dessen Schüler James Ramey als 'Sichort-State' gelehrt, der ihn zu dessen Ehren wieder umbenannt hat. Der ebenfalls legendäre US-Hypnotherapeut Gerald Kein begann nach Sichort ebenfalls mit dessen 'ultra-depth'-Verfahren zu experimentieren, bis Sichort ihm die Verwendung des Namens anwaltlich untersagen ließ, woraufhin in der Gerald-Kein-Gefolgschaft dieser Zustand als 'ultra-height' bekannt ist und angewendet wird. Auch unter diesem Begriff ist er daher in der Praxis zu finden.

Leider gibt es jede Menge Leute, die sich im Hypnosesektor tummeln, die nicht mal eine gescheite Trance hinbekommen, und es gibt 'Ausbilder' die ohne mit der Wimper zu zucken sagen 'und wenn es nicht gelingt, Sie aber ein leichtes Schnarchen von ihrem Klienten hören, sprechen Sie ruhig weiter, auch im Schlaf ist das Unterbewußtsein ansprechbar'. Zwar gibt es die Möglichkeit der Schlafsuggestion, aber mit Hypnose ist das weder vergleichbar noch kommt es gar dem Esdaile-Zustand auch nur nahe. Im Gegenteil, Hypnose ist ein Zustand gesteigerter Wachheit, 'heightened awareness', wie die englischsprachigen Hypnoseschulen sagen, mit dem einzigen Unterschied, daß sich unter der Hand eines erfahrenen Therapeuten diese gesteigerte Aufmerksamkeit beliebig lenken und vor allem fokussieren läßt.

Dies sind jetzt lediglich Hintergrundinformationen, von denen ich hoffe, daß jemand, dem dieses Gebiet bisher wahrscheinlich völlig unbekannt war, sich anhand dessen selbst weiterbilden und evtl. nach geeigneten Therapeuten suchen kann.

Ich schreibe das auch nur deshalb, weil die übliche Schmerztherapie u.a. auf Morphin-Derivaten basiert und in aller Regel süchtig macht. Einem terminalen Schmerzpatienten kann das egal sein, er und seine Behandler gehen ja davon aus, daß es einen Zustand ohne unerträglichen Schmerz nie mehr 'in diesem Leben' geben wird und daher die Sucht hinter der Schmerzlinderung zurücksteht. Meiner Beobachtung nach suchen solche Menschen ohnehin ihr Leben weiter abzukürzen, denn die überwiegende Zahl derer, die sich einer Sterbehilfeorganisation anvertrauen, sind Menschen, die einerseits austherapiert scheinen und andererseits unter Schmerzen leiden. Leider sind viele Sterbehilfeorganisationen for-profit-Unternehmen und werden eher nicht zu einem Hypnotherapeuten raten.

Einem Patienten jedoch, der Hoffnung hat, daß seine schmerzursächliche Grundkrankheit erfolgreich therapiert werden könne, dem kann eine Suchtinduktion in der begleitenden Schmerztherapie eben nicht egal sein.

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