Harry Graf Kessler über Oswald Spengler

Tempranillo, Mittwoch, 11.09.2019, 15:19 (vor 1689 Tagen) @ Tempranillo1607 Views

Beginn der Nietzsche-Tagung nachmittags in der ›Erholung› mit dem Vortrag von Spengler über ›Nietzsche und das zwanzigste Jahrhundert‹. Der Saal war überfüllt, so daß mir erst ein Stuhl hineingetragen werden mußte. Viele standen.

Dafür wurde Spenglers Vortrag zu einem Debakel. Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und brutalem Mund (ich sah Spengler zum ersten Mal) trug eine Stunde lang das abgedroschenste, trivialste Zeug vor. Ein junger Arbeiter in einem Arbeiterbildungsverein, der sich bemüht hätte, seine Kollegen mit Nietzsches Weltanschauung bekannt zu machen, hätte es besser gemacht. Nicht ein eigener Gedanke. Nicht einmal falsche Diamanten. Alles einförmig seicht, glanzlos, platt, langweilig.

Ja, Spengler hat es fertiggebracht, Nietzsche langweilig zu machen. Nur ein paar drollige falsche Behauptungen erheiterten die trübe Stunde. In England hätten die Philosophen über den Staat nie nachgedacht, ›weil England kein Staat sei‹! (Hobbes' ›Leviathan‹ usw. inexistent; oder wahrscheinlich hat Spengler nie von Hobbes und seinen Nachfolgern gehört.)

Man vergleiche Spengler mit Renan (ohne irgendwie den Wert, den ganz ungleichen Wert, beider in Parallele stellen zu wollen). Das Traditionelle, Unoriginelle ist beim Deutschen (mittleren ›Genies‹) meistens der Inhalt, der ›letzte Schluß‹, zu dem er kommt, beim Franzosen gleichen Niveaus die Form, die Hülle, in die er seine mehr oder weniger neuen Gedanken kleidet.

https://gutenberg.spiegel.de/buch/tagebucher-1918-1937-4378/10

Ich meine mich an einen Satz aus Graf Kesslers Tagebuch zu erinnern, in dem Spengler als *Zarathustras Pfaffe* bezeichnet wird.

Das Pfäffische empfinde ich, wenn mir Spengler vorgesetzt wird, ebenfalls ausgesprochen stark.

Es liegt in der begrifflichen Falschmünzerei, Verlogenheit, Liebedienerei vor Macht und Geld, dem Rechtfertigen des Status Quo und Einnebeln des Publikums mit sanft einschläferndem, etwas elegisch getönten Phrasendampf.

Spenglers Tiefe entspricht der Tiefe einer katholischen oder evangelischen Sonntagsmesse und -predigt.

Was die Gläubigen jeweils beeindruckt, ist in meinen Augen die in Deutschland epidemische Verwechslung des Nebulösen und Unklaren sowie Widersprüchlichen, aber pompös und weihevoll aufgemotzten Trivialen mit Tiefe.

Tempranillo

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*Die Demokratie bildet die spanische Wand, hinter der sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr finden sie das beste Verteidigungsmittel gegen eine etwaige Empörung des Volkes*, (Francis Delaisi).


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