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Zins, Zinseszins und Krieg

Geschrieben von dottore am 16. August 2004 19:09:34


Hi,

der älteste bisher bekannte Text, in dem von einer "Leihe" die Rede ist, ist in den von Jerrold Cooper edierten königlichen Inschriften Mesopotamiens (hier: Sumer und Akkad, also ins 3. Jt. BC zu datieren) zu finden. Bei dieser Leihe" handelt es sich um das entsprechende Pendant, nämlich einer Schuld, die nicht auf einem (privaten) Kontrakt beruht, sondern auf einer klassischen Abgabe.

Die betreffende Inschrift stammt von einem Herrscher namens Enmetena, der den Stadtstaat Lagash in Südmesopotamien regierte (ca. 2400 BC) und der mit dieser Inschrift auf das sich per Zinseszins ergebende Überschuldungsproblem hinweisen wollte. Der selbe Herrscher wird auch als Erster gefeiert, der das System der "clean slates" (Schuldenstreichung) eingeführt hat.

Die Geschichte ist die: Zwischen Lagash und Umma (benachbarter Stadtstaat) lag ein umstrittener Streifen Land, von dem Lagash behauptete, er sei von Umma zu den bekannten Bedingungen bewirtschaftet worden (bei Nichtabgabe des SOLLs ein Strafzins auf den Fehlbetrag in Höhe von 33 % p.a.). Aus dem Dokument geht hervor, dass im Laufe von 40 bis 50 Jahren ein Betrag (in Litern Getreide) von ca. 4,5 Billionen (sic!) Litern aufgelaufen sei, sofern man die Maße und Gewichte des Reallexikons der Assyrologie zu Hilfe nimmt (Beitrag Powell in Band 7, S. 457 ff.).

Die gesamte Erntemenge der Provinz Lagash wird in der Ur III-Periode mit 37 Millionen Litern berechnet (Mieroop in seinem Standardwerk Cuneiform Texts and the Writing of History 1999, 132). Weil es zu keiner Einigung zwischen den beiden Territorien gekommen ist, kam es zum Krieg.

Kern der Sache bleibt demnach: Haben wir es mit Abgabensystemen zu tun, geht es über den Abgaben-Zinnß zu einem "Zins" auf diesen, sofern die Abgabe nicht geleistet wurde oder werden konnte. Die Suche nach einem privaten Zinseszins ist müßig, da der tatsächliche oder vermeintliche Schuldner sehr rasch in Größenordnungen hineinkommt, die auch dem dümmsten (oder bestgläubigen) Gläubiger offenbaren, dass da nichts zu holen ist (und er sich am ursprünglichen Pfand bedienen muss).

Bei "robusten" Schuldnern, wie es Machtsysteme nun einmal sind, schaut das anders aus, weshalb das (heute) öffentlich-rechtliche Schuldenmachen nur bei "Querköpfen" eine nennenswerte Beachtung findet (man lese immerhin Oswald Metzgers Einspruch! Wider den organisierten Staatsbankrott).

Der Unterschied zwischen dem mesopotamischen und dem heutigen Abgabensystem besteht im Wesentlichen darin, dass die Altvorderen bereits das zu erbringende SOLL als Schuld verbucht haben, während wir heute das sich ergebende IST halt so nehmen wie es kommt und die Differenz als "Staatsschuld" deklarieren, wobei wir übersehen, dass diese selbstverständlich eine Schuld ist, die auf die gesamte Bevölkerung (wie auch immer dann dort verteilt und wann auch immer fällig) zukommt. Man müsste also nicht sagen: "Schulden sind die Steuern von Morgen", sondern "Schulden sind die (heute noch nicht verbuchten) Schulden von Morgen".

Liegt also die SOLL/IST-Differenz des Staates (= letztlich der betreffenden Bevölkerung) in einem Jahr bei 70 Mrd Euro und im Folgejahr wieder bei 70, hat sich die Schuld der Bevölkerung nicht etwa um den Prozentsatz erhöht, der sich auf den "Schuldensockel" oder "Schuldenstand" bezieht (siehe Maastricht-"Kritierien" usw.), sondern schlicht um 100 %. Dagegen waren die 33 %, mit denen im antiken Nahen Osten gearbeitet wurde, geradezu banal.

Schulden der Bevölkerung (!) sind nicht deshalb keine, weil sie nicht verbucht bzw. auf den Einzelnen (pro Kopf o.ä.) aufgeteilt und mitgeteilt sind. Auch dies gilt es beachten.

An clean slates wird auch in unserem Fall kaum ein Weg vorbeiführen. Dabei ist leider nicht mehr ein einzelner "Palast" oder "Tempel" der Passiv-Berechtigte, wie damals, sondern die gesamte Bevölkerung selbst, was diverse Ungemütlichkeiten verheißt.

Unklar ist derweil nur, wie die Veranstaltung durchgezogen wird, bzw. wie lange sich noch das "Zwischenkonto" (CpD) Staat bebuchen lässt, ohne dass es zu Nervositäten jener kommt, die in summa Schuldner und Gläubiger in einem sind, allerdings noch so geschickt getarnt, dass sie voneinander (ihrer Identität) nur gelegentlich ahnen, aber noch nichts Gänzliches oder Tatsächliches wissen, zumal man ja "auf Zeit" spielen kann.

Oh, oh... Immerhin ist die alte Geschichte ein eye-opener der besonderen Klasse.

Gruß!

PS: Ich bitte, dies nicht wieder sub rubrum "Untergangsfetischismus" abzulegen. Danke. Geschichte ist schließlich dazu da, um aus ihr zu lernen und nicht um irgendwelche "kranken" Vorstellungen damit zu "belegen".