Lage in Griechenland

Athen, Mittwoch, 30.01.2019, 10:56 (vor 1915 Tagen) @ Oberbayer3853 Views

Wie schätzt Du die Richtigkeit der folgenden Thesen von Orlov in diesem Zusammenhang ein?

Stufe 1: Finanzieller Zusammenbruch. Der Glaube an "business as usual" ist verloren.
Stufe 2: Kommerzieller Zusammenbruch. Der Glaube, dass "der Markt liefern soll", ist verloren.
Stufe 3: Politischer Zusammenbruch. Der Glaube, dass "die Regierung sich um dich kümmern wird", ist verloren.
Stufe 4: Sozialer Zusammenbruch. Der Glaube, dass "dein Volk sich um dich kümmern wird", ist verloren.
Stufe 5: Kultureller Zusammenbruch. Der Glaube an "die Güte der Menschheit" ist verloren.


Hallo Oberbayer,

zunächst bedaure ich, dass ich so lange für meine Antwort gebraucht habe.

Den verlinkten Artikel habe ich überflogen, sehe mich aber nicht in der Lage, die Kriterien für die einzelnen Stufen daraus zu ermitteln.

Griechenland ist nun seit bald einer Dekade in der Krise. Noch jedes Jahr haben Politiker behauptet, es würde im nächsten Jahr schon besser werden. Die Regierung Tsipras hat sich gerade erst gerühmt, die Arbeitslosigkeit sei auf rund 18% gesunken (von 27% in 2014). Die letzten beiden Jahre waren im Tourismus äußerst erfolgreich. Während die Türkei, Tunesien und Ägypten als unsichere Urlaubsländer galten, erlebten Spanien und Griechenland einen Boom. Von rund 30 Mio. Touristen (bei grob 11 Mio. Einwohnern) ist die Rede. Auch 2019 soll ähnlich verlaufen. Diese Ströme sind unterschiedlich verteilt. Die Inseln, voran Kreta; Athen, Thessaloniki und vermutlich auch die Peloponnes profitieren stark. Auf Kreta ist die Saison jedoch tendenziell kürzer geworden. Denn Griechen machen seltener und wenn, kürzer Urlaub. Athen hingegen hat jetzt ganzjährig Touristen. Insofern denke ich, dass die Stufen 1-2 je nach Region sehr unterschiedlich wahrgenommen werden.

An die Politik hat in Griechenland eigentlich nie jemand geglaubt. Es liegt wohl in der griechischen Mentalität der Gegensätze, dass viele Bürger dennoch auf den Staat hoffen (so wie sich anscheinend Gastfreundschaft und Rassismus nicht ausschließen). Tsipras wurde als "Linker" gewählt, um die Zustände zu bessern. Bei den kommenden Wahlen dürfte der Konservative Mitsotakis (aus einer Politikerdynastie) gewählt werden. Ob Stufe 3 in Griechenland Sinn macht, wage ich zu bezweifeln. Die gegenteilige Entscheidung nach der Volksabstimmung (über den Euro) dürfte im Übrigen nicht zur Demokratie beigetragen haben.

Der soziale Zusammenhalt scheint mir jedoch gestärkt worden zu sein. Gab es vor einigen Jahren noch abfällige Bemerkungen, über die angeblich faulen Jugendlichen, sind mittlerweile viele Familien selbst betroffen und haben Verständnis. In den Dörfern und Kleinstädten hilft man sich nach Möglichkeit gegenseitig. Den Zusammenhalt würde ich - wie auch früher - als stark bezeichnen. Dabei ist zu beachten, dass Griechenland ein soziales Netz fehlt. Dies wird idR durch die Familien substituiert.

Von Stufe 5 sehe ich keine Anzeichen.

Erfahrungsgemäß würde Gaby die Lage in Nordgriechenland pessimistischer einschätzen. Es hängt also sicher von der Region ab.

Beste Grüße Athen


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