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Real-Enzyklopädie (7): Urschuld

Geschrieben von dottore am 17. Juli 2001 17:19:56


Guten Tag!

Wir kommen zu einem besonders schwierigen Kapitel, das umso leidenschaftsloser abgehandelt werden muss.

Die "Urschuld" ist eine Verbindlichkeit gegen uns selbst.

Ihre Existenz zu erkennen, bereitet vielen die größten Probleme. Schließlich setzt das ein starkes Abstraktionsvermögen voraus. Man muss sich den Menschen sozusagen verdoppelt vorstellen: Ein Mal als den, der für ihn sorgen muss und ein zweites Mal als den, der ihn versorgt.

Daher werden Urschuld-Diskussionen gern als quasi-religiöses Geschwafel abgetan - die bekannte "Erbsünde"-Diskussion, die schon lang und breit geführt wurde.

Die Juristen, die zunächst für die Probleme der Verbindlichkeiten zuständig sind, da diese schließlich in der einen oder anderen Form gerichtsnotorisch werden müssten, falls es sich tatsächlich um Verbindlichkeiten handelt, haben dies noch bis ins 19. Jh. berücksichtigt, z.B. Adolph Dieterich Weber: "Systematische Entwickelung der Lehre von den natürlichen Verbindlichkeiten und deren gerichtlichen Wirkung", Schwerin und Wismar 1805 (4. Aufl.), wie das Inhaltsverzeichnis zeigt:



Darin ist klar von "Verbindlichkeiten gegen uns selbst" die Rede, was aber, da nahe zu denen "gegen Gott" angesiedelt, wieder eher nach Geschwafel ausschaut, da Verbindlichkeiten gegen Gott ausschließlich in der Vorstellung jedes einzelnen liegen (auf das "Opfer"-Phänomen sei hier verwiesen).

Verbindlichkeiten gegen uns selbst sind nun höchst real und ökonomisch wirksam. Sie müssen ein Leben lang abgetragen werden, in realen Gütern und Leistungen (Essen, Trinken, Wohnen usw.). Die "Urschuld" ist demnach ökonomisch in Erfahrung zu bringen, indem die gesamten Lebenshaltungs- und Lebensaufenthaltskosten für einen erwarteten Lebenszeitraum auf den Zeitpunkt der Geburt nach den üblichen finanzmathematischen Tabellen abgezinst werden, die man bei jeder Lebensversicherung einsehen kann.

Das ist die Urschuld.

Ganz schlichtes Beispiel: Liegen die Kosten des Lebenserhalts konstant bei 30.000 pro Jahr, dann müsste ein Kapital, das sich zu 5 % verzinst in Höhe von 600.000 vorhanden sein, um das Lebenserhaltungsproblem zu lösen, sofern das Kapital unangetastet vererbt werden soll (den modernen Inflationismus lassen wir der Einfachheit halber beiseite, da er am Grundproblem nichts ändert und außerdem in sog. "Sachkapital" angelegt werden kann, wobei wir dessen Erhalt auch hier weglassen können, es müssten dann Erhaltungsrücklagen gebildet werden, die die laufend verfügbaren Einkünfte mindern).

Auch dieses Kapital ist nur ein anderer Ausdruck für Urschuld.

Entweder es ist vorhanden, womit sich kein Zwang zum Wirtschaften für den Betreffenden ergibt. Oder es ist nicht vorhanden. Dann müssen die 30.000 jedes Jahr als Einkommen über den Markt erwirtschaftet werden und zwar durch am Markt realisierte persönliche Umsätze (in der Regel Löhne und Gehälter) des Betreffenden.

Die Urschuld ist demnach nichts anderes als die Summe, die benötigt wird, um ein Leben lang am Leben zu bleiben und zwar so, dass die Summe mit dem Lebensende auf Null steht (es sei denn, sie wird ganz oder zum Teil vererbt).

Da sich weder das Lebensende im Voraus berechnen lässt noch die Ausgestaltung der Lebenswünsche (z.B.: will ich in einer Villa oder einer Hütte wohnen?) ist die Sache höchst vertrackt. Die Urschuld kann während ihrer Laufzeit ("Leben") obendrein variieren, jeder einzelnen kann sie auch ständig maximieren (Saus & Braus) oder minimieren (Wasser & Brot).

Nichtsdestotrotz existiert da eine Verbindlichkeit, die auch im modernen Recht immer wieder durchscheint:

Arbeitlose, deren Urschuld von der Arbeitslosenversicherung abgetragen wird (also von anderen, die in die Versicherung einzahlen), werden immer häufiger vom Staat gezwungen, "zumutbare Arbeit" anzunehmen, also durch eigene Leistung an Lebenskostendeckungsmittel zu gelangen.

Selbst Sozialhilfe (also das Existenzminimum) erhält man in der Regel erst, nachdem alle eigenen Mittel aufgebraucht sind, wobei diese Mittel vom Antragsteller selbst oder dessen Vorfahren erwirtschaftet wurden (Erbschaft). Verwandte in direkter Linie sind überdies einander zum Unterhalt verpflichtet, usw.

Dass die "Verbindlichkeiten gegen sich selbst" mehr und mehr aus der juristischen Lehre herausgefallen sind (und in der ökonomischen überhaupt nicht auftauchen) ist dem Römischen Recht zu verdanken, das sich im 19. Jh. durchgesetzt hat.

Im Codex Justiniani aus dem 6. Jh., einem kolossalen Werk (die älteste Handschrift liegt in der Bibliotheca Laurenziana in Florenz), werden die "Obligationes" so beschrieben (§ ult. I):

"Aut ex contractu sunt, aut quasi ex contractu, aut ex malificio aut quasi ex malificio."

Sie entstammen also entweder aus Verträgen oder quasi aus Verträgen oder aus Schadenszufügungen oder quasi aus diesen, was zum Erfüllungszwang oder zu Schadensersatz führt. Da einerseits niemand einen Vertrag mit sich selbst abschließt (das bekannte Selbstkontraktionsverbot moderner Handels- und Gesellschaftsrechte on top!), und niemand sich gegenüber schadensersatzpflichtig ist, ist damit das Problem als nicht existent definiert. Da hält aber einer nüchternen Realitätsprüfung nicht Stand.

Der römische Rechtslehrer Gajus mogelt sich ebenfalls an der Sache vorbei, indem er Verbindlichkeiten entstehend aus

"aut proprio quodam jure ex variis causarum figuris"

anführt, also letztlich aus verschiedenen Ursachen, ohne diese näher zu erläutern, was auch spätere Römischrechtler nicht mehr schaffen, so schreibt Modestin im 18. Jh.:

"Obligamur (Wir sind verpflichtet) aut re (aus Sache), aut verbis (Worte), aut consensu (Einverständnis), aut lege (Gesetz), aut jure honorario (Ehrensachen), aut necessitate (Notwendigkeit), aut peccato (Sünde)."

Die "Notwendigkeit" wird dabei allerdings nicht näher untersucht.

Letztlich werden heute in der Rechtslehre alle Verbindlichkeiten als "auf Gesetz beruhend" bezeichnet, was zunächst auch vernünftig erscheint. Auch beschreibt kein Gesetz eine Verpflichtung zu Selbsterhaltung direkt (selbst der Suizidversuch ist in den meisten Staaten nicht mehr strafbewehrt, also ein Verschuldenstatbestand, was er noch bis ins letzte Jh. hinein war).

Allerdings kann jeder mit dem Phänomen der Urschuld unvermittelt konfrontiert werden: nämlich dann, wenn ihm eine Verfügung des Familiengerichts auf "Zahlung von Unterhalt" ins Haus flattert. Es ist zwar nicht der eigene Unterhalt, aber doch der Unterhalt eines Menschen, der selbst (noch) nichts zur Deckung seiner eigenen Urschuld beitragen kann und für dessen Existenz man aus menschlich-existentiellen Gründen verantwortlich ist.

Das Fehlen der "Verbindlichkeiten gegen sich selbst" ist inzwischen sehr wohl verständlich, da der "moderne" Staat sich als Institution versteht, die stets in der Lage ist, alle Probleme der Staatsbürger aus der Welt zu schaffen, das Problem des Überlebens eingeschlossen, was freilich weder mit Steuern, die (noch) nicht mit Problemen beladene Bürger bezahlen müssen, noch gar mit Staatsverschuldung funktionieren kann, die zum Schluss selbstverständlich niemand bezahlen kann und wird.

Dass Verfassungen oder Grundgesetze das Problem nicht angehen, nimmt auch nicht Wunder. Sie beginnen gewöhnlich mit den Rechten des Einzelnen (Menschenwürde u.ä.), aber gemahnen ihn nicht an seine Pflichten - wenn sie ihm nicht gar Flausen in den Kopf setzen, wie die amerikanische Erklärung vom 4. Juli 1776, die dem Einzelnen sogar ein Recht auf Glück verheißt ("pursuit of happiness").

Wie launenhaft und brüchig ihr "Glück" ist, werden allerdings selbst die Amerikaner eines Tages merken, möglicherweise schon sehr bald.

Gruß

d.