zur Sammlungsübersicht

Debitismus, Dereliktion (Eigentumsaufgabe) und Staatsbankrott

Geschrieben von dottore am 09. November 2004 16:26:13


Hi,

die Basis des sog. Debitismus ist bekanntlich die Verschuldung (debitum = das Geschuldete). Ohne Schuldner fehlt der Druck, den ökonomischen Prozess ("Wirtschaften") voranzutreiben, also sich Schuldendeckungsmittel beschaffen zu müssen oder die entsprechenden Konsequenzen zu erleiden (Sanktion, Pfandverlust, usw., usw.).

Die Verschuldung startet historisch mit Schulden ex nihilo, also nicht-kontraktlicher Verschuldung, sondern mit obrigkeitlich, also durch tatsächlichen oder angedrohten Machteinsatz ("coercive power") gesetztem SOLL für Abgaben aller Art (Tribute, Steuern, usw.). Alles Weitere, was heute sub rubrum "Wirtschaften" läuft (Eigentum, Zins, Geld, Termin, Arbeitsteilung, Märkte, Preise, usw. usw.) sind demnach Macht-Derivate und ohne Macht auch nicht definierbar (Sicherheit, Schutz, Vollstreckung, usw.).

Von daher ist der Debitismus rein deskriptiv und nicht etwa evaluierend oder gar postulativ - wie etwa "Wirtschaftstheorien", die irgendein Bild des Wirtschaftens zeichnen in der Absicht, mit Hilfe von Maßnahmen X, Y oder Z dieses zu "verändern" oder zu "verbessern". Man kann zwar sagen, was passiert, wenn... (z.B. keine "Nachschuldner" auftreten, keine "new credits" erscheinen, also der "kapitalistische Kettenbrief" reißt und rückwärts abgewickelt werden muss) ... aber das beinhaltet keineswegs eine entsprechende Forderung nach "Fortsetzung" o.ä.

Es ist, wie es ist - und fertig.

Nun existieren jede Menge Schnittstellen zwischen dem (ursprünglichen und stets übergeordneten) obrigkeitlichen Machtsystem und dem "privaten" System "darunter" und natürlich auch Durchmischungen, z.B. wenn im privaten "Unterstübchen" sich via Markterfolge aller möglichen Art "Mächtige" (Reiche, Kapitalisten, Wucherer [sie wuchern im regelmäßig fälligen Abgabengut], Banker usw.) herauskristallisiert haben, die dann ihrerseits nach der obrigkeitlichen Macht greifen - sei es über Wahl-, Kauf-, Betrugs-, Korruptionsvorgänge und dergleichen mehr.

Desungeachtet bleibt das ökonomische Substrat des Prozesses, also die permanente Neu- und/oder Zusatzverschuldung erhalten. Was sich auch darin zeigt, dass diese Verschuldung privat eingegangen oder öffentlich-rechtlich betrieben letztlich (entsprechende Verwerfungen hin oder her) den selben Effekt haben: die Fortsetzung des Prozesses, nämlich Wirtschaften unter Erfüllungsdruck.

Dass der Erfüllungsdruck, unter dem ein öffentlich-rechtlicher, also Macht-Bereich steht ein ganz anderer ist (sehr gering, zumal prolongierbar) als der, unter dem einzelne "privat" Wirtschaftende stehen (Produzenten, Konsumenten) versteht sich von selbst.

Ein kritischer Bereich ist freilich erreicht, wenn sich weder der öffentliche noch der private Bereich zusätzlich verschulden können. Auf den "Ausweg" (der nur dem öffentlichen Bereich offen steht), das jeweilige Schuldendeckungsmittel ohne Federlesen nicht etwa von anderen abzufordern (die dazu ihrerseits in dem "wirtschaftenden" Prozess voranschreiten müssten), sondern selbst zu fabrizieren, muss angesichts jahrtausendealter und allseits bekannter Erfahrung hier nicht näher eingegangen werden.

Die Frage nach dem, was im kritischen Bereich nach dessen Erreichen passiert, ist weder a priori noch gar allgemein gültig zu beantworten. Insofern ist die Inflation/Deflation-Debatte von Nutzen. Entsprechende Abläufe zeitigen - bei aller statistischen Verwirrung - doch sichtbare Symptome, aus denen, jeweils fortlaufend neu beurteilt werden kann, wohin die Reise geht (der debitistische Prozess ist immer "unterwegs", also absolut dynamisch, auch wenn es manchmal so ausschaut als "bewege" sich "nichts"), und welche kurz- und/oder längerfristigen Anlageentscheidungen sich demgemäß empfehlen.

Im kritischen Bereich sind naturgemäß die Schnittstellen interessant. Eine davon darf ich kurz vorstellen (basierend auf der NZZ von gestern):

Im Wallis ist Grundeigentum sehr breit gestreut. Eigentum (ein klassisches Macht-Derivat, da macht-besichert) selbst hat im debitistischen Prozess eine zentrale Funktion: Es lässt sich beleihen (Pfand usw.). Das Eigentum der Walliser, durch Erbteilung usw. stark parzelliert und (Hanglagen usw.) nicht mehr wirtschaftlich sinnvoll nutzbar, ist in weiten Bereichen inzwischen wertlos, in guten Lagen gibt's noch 5 Franken, in maschinengängigen Hanglagen 2 bis 3 Franken. Auf Umwandlung in Bauland zu hoffen, ist zumeist müßig.

Da es keinen Sinn macht, das Eigentum zu halten, da etwaige Kosten immer drohen, entschließen sich immer mehr Eigentümer dazu, es aufzugeben (sog. "Dereliktion"). Das Land wird dadurch aber nicht herrenlos (res nullius nach Römischem Recht), sondern fällt an den nächst drüber befindlichen Obereigentümer: die Gemeinde.

Die Gemeinden haben das Ganze dadurch beschleunigt, das sie eine Realsteuer belassen oder zusätzlich eingeführt haben, die auf den Böden liegt: Das Land muss vom Eigentümer einmal im Jahr abgemäht oder abgeweidet werden. Dann doch lieber das Land aufgeben... Amtliche Kosten: 20 Franken pro Grundstück.

Nun sind die Gemeinden ihrerseits nur selten schuldenfrei (man erinnere sich an den Leukerbad-Skandal) und haben durch den "Heimfall" des Bodens zusätzliche Auf- und Ausgaben, denen sie sich letztlich nur durch zusätzliche Verschuldung stellen könnten.

Ein für Umweltfragen zuständiger deutscher Bundestagsabgeordneter hat mir gerade vorgerechnet, dass wg. EU-Erweiterung, landwirtschaftlichem Produktionsfortschritt, usw., usw. demnächst 45 Millionen Hektar bisher wirtschaftlich (wenn auch subventioniert) genutztes Land "frei" werden und in Richtung Brachland abdriften (dieses "Landschaftsschutzargument" kennen wir auch von der CSU, Stichwort "schönes Bayern"). Würde das Land à la Wallis "aufgegeben", hätte der Staat weitere Ausgaben zu gewärtigen (schuldenfinanzierte).

War die "Schaffung" (= Teilzession, die Steuerhoheit ist geblieben) von Eigentum in den vergangenen Jahrhunderten ein Mittel für Herrscher und Staat, immer wieder - auf Zeit - der unerbittlichen Schuldenfalle zu entkommen (das Vorfinanzierungsproblem der Macht ist und bleibt unlösbar), so könnte sich der Prozess durchaus umkehren und den Bankrott des Zwangssystems Staat sogar noch etwas beschleunigen.

Gruß!