Zeitgeist

Ostfriese, Samstag, 30.12.2017, 12:19 (vor 2310 Tagen) @ Albert1465 Views
bearbeitet von unbekannt, Samstag, 30.12.2017, 13:07

Hallo Albert,

in dem Leserbrief erkenne ich die Struktur der drei Ordnungen der Simulakren von Baudrillard.

Es ist erstaunlich, wie biegsam der Zeitgeist sein kann:

Der 'Zeitgeist' ist im Sinne von Baudrillard als ein Deutungsmuster zu verstehen, der in epochenspezifischer Art und Weise gesellschaftliche Wirklichkeit erzeugt und gestaltet. Er ist nur aus seiner Epoche heraus zu begreifen.

"Aber die Simulakren sind nicht bloße Zeichenspielereien, sie implizieren gesellschaftliche Wirklichkeit und gesellschaftliche Macht." (S.95)

In der Barockzeit brachte er die Leute dazu, dass sie Perücken trugen,
sich nicht
wuschen, sondern puderten,und lieber französisch parlierten als sich
ihrer Muttersprache
zu bedienen.

Im klassischen Zeitalter der Imitation von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jh. emanzipierten sich die Zeichen von einer starren verpflichtenden Ordnung der vormodernen Zeit und traten in eine Ära einer freien Konkurrenz. Mit der nichtgebundenen Verfügbarkeit verloren die Zeichen ihre eindeutige Interpretation aus der vormodernen Zeit.

Beim Ausbruch der Französischen Revolution berauschte sich
der
Zeitgeist an den Parolen von der Volksherrschaft, entschied sich aber,
als
sich Monsieur Bonaparte auf den Kaiserthron setzte, wieder für die
Monarchie und
verneigte sich devot vor seiner Majestät.

Die Französische Revolution ist die Wende zum Zeitalter der Produktion – zuerst in Großbritannien. Die industrielle Massenproduktion brachte die serielle Erstellung einer neuen Generation von Signifikationen zustande. Die serienmäßig produzierten Industriegüter verweisen noch auf eine äußere Realität – sie verkörpern menschliche Arbeitskraft.

Er erfindet
Modewörter oder Phrasen, schwatzt Schönheitsideale auf, empfiehlt die
Bücher oder Urlaubsorte, die man kennen muss, leiht den Werbeagenturen
flotte Werbesprüche und diktiert den Tageszeitungen die Überschriften.
Ja, er bestimmt sogar, wie moderne Kunst auszusehen hat und welche Themen
in die Lehrbücher, auf die Bühnen oder auf die Bildschirme dürfen.

Diese Sätze markieren die Ordnung der Simulation: Der gegenwärtige Umgang mit Medien, Mode, Wissen, Freizeit, Arbeit und Konsumgütern verändert die menschliche Interaktion. Vor allem die Medien kontrollieren und manipulieren die Bedürfnisse der Menschen in der Konsumgesellschaft. Sie sind mit ihrer grundlegenden "Einseitigkeit der Kommunikation" (S.91) die zentrale technische Institution der Macht – denn "die Macht gehört demjenigen, der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann"

Wie gesagt: Der Begriff 'Zeitgeist' bezeichnet die Eigenart einer bestimmten Epoche beziehungsweise den Versuch, sich dieser zu vergegenwärtigen. Er ist einer fortwährenden Veränderung unterworfen und nur in Abhängigkeit aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Die Wertvorstellungen, die er beinhaltet, spiegeln die Denkmuster und Handlungsmuster ihrer Zeit wider.

Der
Zeitgeist ist ein Scharlatan. Er schafft es immer wieder, mit der immer
gleichen Masche für Ideen zu begeistern, die schon einmal gescheitert
sind, indem er, was ihm missfällt, als ‘rückständig‘ beschimpft und
das, was er empfiehlt, als ‘fortschrittlich‘ anpreist.

Das Wort 'Zeitgeist', das als Lehnwort (adjektivisch in Englisch: zeitgeisty) in zahlreiche Sprachen Einzug gehalten hat, ist für mich nicht negativ besetzt – jedenfalls möchte ich heute nicht hochmütig und herablassend über vergangene Zeiten urteilen und sprechen.

Gruß â€“ Ostfriese


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