Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind

Phoenix5, Samstag, 17.06.2017, 22:13 (vor 2476 Tagen) @ Konstantin5473 Views
bearbeitet von unbekannt, Samstag, 17.06.2017, 22:51

Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.
Theodor W. Adorno


Spengler beschrieb, wie eine Kultur ihren Wertekanon verliert, zur Zivilisation „individualisiert“ und schließlich reprimitiviert bzw. die alte Religion, auf der die Kultur einst gründete, synkretisch aufgepeppt, erneut entfacht. Dieser Prozess ist irreversibel, weil Wissenschaft einen Gruppenkonsens benötigt, auf dem sie aufbauen und weiterforschen kann. Dieser Gruppenkonsens kann aber in einem Massenkollektiv, das seine kulturelle Seele verloren hat, nur mehr durch staatliche Gewalt aufrechterhalten werden und da staatlich geförderte und finanzierte Bildung im Zeitalter des beginnenden Cäsarismus und der wirtschaftlichen Verwerfungen nicht mehr oberste Priorität hat (und Staatssender den Bildungsauftrag herunterschrauben und kaum mehr Reichweite haben), kommt es zur Reprimitivierung.

Darüber hinaus wird die Wissenschaft zusammen mit der Demokratie und der erodierenden staatlichen und medialen Deutungshoheit psychologisch zum „alten Weltbild“ verdichtet: Es wird einfach alles angezweifelt, was von dieser Seite kommt. Das Vertrauen, dass der Mensch einer gewachsenen Kultur eben dieser Kultur unbewusst entgegenbringt, wird in der Zivilisation durch das bewusste Vertrauen in den Staat ersetzt und wenn dieses schwindet (was gerade passiert) zerfällt jeglicher Konsens. Der Mensch der Zivilisation ist den Kräften des Zerfalls nicht gewachsen. Er sieht Krisenherde, wirtschaftliche Verwerfungen, den Zerfall aller sozialer Strukturen und er sucht verzweifelt Halt. Nikolay ist hier kein Einzelfall – er ist nur ein kleiner Teil einer expandierenden Bewegung der Zweifler, die zwar ehrlich, aber nicht ernsthaft suchen. Geleitet werden sie nämlich von dem tief sitzenden Bedürfnis nach einem „Mehr“ im Leben. Nicht Ratio treibt sie an, sondern die verzweifelte Suche nach einem Sinn des Ganzen – sie suchen nach der Magie im Leben, einem spirituellen Aha-Erlebnis, das die Einfachheit des Seins offenbart und ihnen von all der wissenschaftlichen Vernunft (dem Satan) Jahrtausende vorenthalten wurde. Sie suchen Erlösung – vielleicht auch DEN Erlöser und Retter! Diese Sehnsucht ist der Nährboden der „Zweiten Religiosität“.

Auftreten können sie nur deshalb so selbstbewusst, weil eben der große Konsens fehlt: Die Gewalt der Masse! Deshalb bricht die Schweigespirale dort genauso, wie sie gerade bei der staatlich verordneten „political correctness“ bricht. Der Abgesang des sogenannten „linksliberalen Mainstreams“, auf den ich hier noch einmal mit Freuden nachtrete (Ja, ich weiß. Ich kann´s, entgegen meiner Ankündigung, nicht vollständig sein lassen. Ich brauche das hin und wieder für meinen Seelenfrieden)…

www.fischundfleisch.com/stefan-gruber/der-linksliberale-karikatur-eines-politischen-menschen-35290

…ist nicht gleichbedeutend mit der Morgendämmerung des Paradieses. Im Gegenteil: Gerade der linksliberale Mainstream war die letzte staatliche Simulation eines scheinbar kulturellen Gruppenkonsens´ und mit diesem Bruch beginnt die Beliebigkeit des Denkens, die alle Bereiche infiziert und keinen Respekt mehr vor Autoritäten hat. Hier formt sich der Typus des „Fellachen“ heraus. Wer heute in seinen Kindern die Begeisterung für die harten Wissenschaften weckt und die sich später in Nischen wie der Mechatronik spezialisieren, der wird selbst in den Zeiten der schlimmsten wirtschaftlichen Verwerfungen (Atomkrieg ausgenommen) noch wohlhabende Kinder haben. Danach wird die Kaste der Landwirte folgen und dann die breite Masse der Verarmten - Der Spenglersche „Vierte Stand“: Der Pöbel der Weltstädte.

Wahre Esoterik ist harte Arbeit und die Wissenschaft ist für sie ein Teilgebiet – ihr Freund, aber mit Sicherheit nicht der Weisheits letzter Schluss. Sie ist nur dort wirksam, wo Kausalität und Reproduzierbarkeit herrschen. Sie abzulehnen bedeutet, den rationalen (männlichen) Teil des Kosmos zum Bösen zu erklären. Es bedeutet Fellachentum. Was mich persönlich an den Zeitgeist-Esoterikern fasziniert ist, wie sie die Wissenschaft benutzen, um Wissenschaft madig zu machen. Sie haben ihr gefestigtes Weltbild und füllen es mit pseudowissenschaftlichen Beweisen aus. Was nicht ins Weltbild passt, wird abgelehnt. Nikolay hätte alle seine Argumente innerhalb kürzester Zeit mithilfe des Internets selbst widerlegen können. Das will er aber nicht. Er will missionieren. Er will, dass die Welt seinem Weltbild folgt.

Warum ich mich bei diesem Thema überhaupt zu Wort melde, wo ich doch die letzten Monate kaum mehr irgendwo aktiv war? Ein paar aktive Forenmitglieder mit ihrem phantastischen Weltbild hält das Forum nicht nur aus, nein, es braucht sie, um verhärtete Strukturen aufzubrechen und neu zu hinterfragen und auf diese Weise Wissen für alle zu generieren. Ebenso braucht man jene, die das debitistische Modell ablehnen, um nicht in Selbstherrlichkeit zu verfallen und sich auf den errungenen Lorbeeren auszuruhen. Zu viele von ihnen und der Forenkonsens bricht zusammen. Und das wäre das Ende. Die Zeitgeist-Esoteriker werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu einer Armee anschwellen und vermehrt versuchen ihre Themen hier im Forum zu platzieren. Ohne Selektion wird es da nicht gehen. Vor allem ist @Konstantins Frage falsch gestellt. Solche Leute im Forum sollten nur Mittel zum Zwecke der Wissensvermehrung sein. Überzeugen lassen sie sich nicht, weil ihre Sehnsucht emotionaler und nicht rationaler Natur ist.

Man sieht im Forum sehr schön, was passiert, wenn die kontrollierende Instanz (Elli) mit anderweitigen, schwerwiegenden Problemen beschäftigt ist. Wir haben hier keinen kulturellen Konsens, denn wir sind alle Freidenker und Zivilisten. Ohne Zentralmacht geht es weder hier, noch anderswo.

Möge dieses einzigartige Forum überleben.

Gruß
Phoenix5


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