Kapitalismus = Gier + Angst + Staat?

Weiner, Samstag, 25.01.2020, 16:30 (vor 1545 Tagen) @ Oberbayer3137 Views

Hallo Oberbayer,

dass ich den Kapitalismus ganz begriffen hätte, will ich nicht behaupten. Ich ringe seit einiger Zeit um ein angemessenes und für weitere Überlegungen hilfreiches Verständnis. Hatte vom Forum hier einiges erwartet, aber ...

Die Formel, die Du nun bringst, ist m.E. weder vollständig noch tiefgreifend. [Brauchst aber nicht weiter drauf eingehen!]. Wenn ich etwa den ersten chinesischen Kaiser nehme - der mit der Armee aus Lehm -, dann finde ich da zwar Gier und Angst und Staat, aber wohl keinen Kapitalimus.

Man sollte m.E. auch unterscheiden zwischen der Entwicklung des Kapitalismus historisch gesehen (in der mittelmeerischen Antike wohl einige Ansätze, jedoch volle Ausformung erst in Europa, etwa ab Spätmittelalter) und dem heutigen Kapitalismus. Und da er inzwischen nun mal bekannt ist, kann - wer das will - ihn als Instrument des Wirtschaftens und Herrschens nutzen. Hier fällt einem etwa Deng Xiaoping ein. Und gewisse Hintertanen, die ihn laufend optimieren und räumlich ausdehnen ...

Es ergibt sich dann folgende interessante Frage: kann, wer diesen Geist gerufen hat, ihn am Ende auch kontrollieren und ggfs. wieder in die Flasche zurückbefördern? Oder wird man diesen Geist nicht mehr los? Da laufen in China gegenwärtig sehr interessante Prozess ab, die ich aufmerksam verfolge.

[Einschub, weil aktuell: Ich wurde vor ein paar Jahren darauf hingewiesen, dass es Überlegungen, Planungen und vermutlich Vorbereitungen gibt, China mit unkonventionellen Waffen zu stören bzw. handlungsunfähig zu machen - Waffen, die auf den ersten Blick gar nicht als Waffen oder Fremdeinwirkung erkannt werden. Ich behaupte nun nicht, dass die gegenwärtige Epidemie eine solche Ursache hat. Jedoch wird von den Hintertanen aktuell sehr aufmerksam beobachtet, wie China auf diesen Virus reagiert. Und auch China selbst wird hinterher reflektieren, wie es diese Krise bewältigt hat - und ob etwa weitere Vorbereitungen nötig sind, um in einem anderen, viel ungünstigeren Fall noch angemessener handeln zu können. Gewissermaßen haben die chinesische Regierung und die Partei das große Glück, dass dies jetzt passiert ist: was mich nicht tötet, macht mich nur stärker ...].

Deshalb frage ich dich: Wer ist "man", der ihn (den Kapitalismus) "willentlich" abschaffen kann?
Wo hat "man" seine Streitkräfte verborgen,um dieses Ziel durchzusetzen?

Ich gebe eine (wie immer) komplizierte Antwort. Über das "man" denke ich manchmal nach. Im hier verwendeten Zusammenhang würde ich es als "den Menschen, theoretisch bzw. ideal gesehen" verstehen wollen. Denn in meinen Augen der Mensch noch nicht voll entwickelt. Als biologischer Organismus ist er, keine Frage, relativ feststehend. Desgleichen ist auch seine emotionale und verhaltensmäßige Grundstruktur ziemlich fixiert. Daran lässt sich also nicht viel drehen. Wenn man allerdings die Kulturgeschichte der letzten 40.000 Jahre überblickt, erkennt man, dass sowohl einzelne Individuen wie auch einzelne Menschengemeinschaften aus ihren menschlichen Anlagen sehr, sehr viel mehr herausgeholt haben als der breite Durchschnitt - um es mal salopp zu sagen. Das macht Hoffnung, dass das doch noch mal in die Breite gehen könnte und dass diese Entwicklung (im Sinne von Ausschöpfung der vorhandenen Anlagen) noch nicht zu Ende ist. Weil es keine biologische Entwicklung mehr sein kann (wie oben gesagt), kann es eine kulturelle sein.

Den Kapitalismus zu bekämpfen, lohnt sich meines Erachtens nicht. Insofern ist eine Streitmacht nicht nötig. Er wird sich eines Tages erübrigen.

Ein willentliches 'Beenden' haben die Marxisten und Sozialisten versucht, sind aber intern (falsche Organisation) und extern (Wettbewerb mit anderen Mächten) gescheitert. Ich wollte gestern Kuba als Beispiel für eine solche willentliche Beendigung bringen, hab' dann aber São Tomé genommen, weil genauso gelaufen, aber weniger bekannt. Erkenne nun aber, dass derartige Schlenker hier wenig goutiert werden.

Ich schließe die Diskussion mit einem weiteren Zitat aus dem (sehr abstrakten) Buch von Corinne Pelluchon [Ethik der Wertschätzung: Tugenden für eine ungewisse Welt]:

"Das politische Problem kann folgendermaßen formuliert werden:
Wie können die Individuen so zusammenleben, dass sie ihre Unterschiede
und Streitigkeiten zwar ausdrücken, also gegeneinander
stehen, dass sie aber nicht in Hass verfallen, sondern im Zusammenleben
die Gelegenheit finden, sich gegenseitig zu bereichern? Statt zu postulieren, dass eine soziale Harmonie existiert, die zu schaffen die Geschichte, die Religion, die Sprache und die Kultur hinreichen, und statt das Gespenst des Nationalismus zu bemühen, geht es darum, die Regeln zu suchen, dank denen die Bürger zusammenleben und die Prioritäten des Politischen festlegen können." *)

Ebenfalls freundlich grüßend und lächelnd,

Weiner

*) Seite 171. In diesem Definitionsversuch schwingt unerkannt mit, dass die Politik das Gute suchen ("sich gegenseitig bereichern") und das Böse ("Hass") meiden müsse. Es wird hier lieblicherweise Politik mit Ethik vermischt, was m.E. nicht zwingend ist. Politik kann auch dem Nutzenkalkül folgen, etwa wenn zwei Mafia-Organisationen sich arrangieren. Deswegen lasse ich selbst das gerne weg und versuche reduzierter zu formulieren: Politik ist Handeln in Gemeinschaft bzw. gemeinschaftliches Handeln.


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