Heute schon, historisch eher nicht.

Weiner, Dienstag, 10.09.2019, 23:20 (vor 1661 Tagen) @ neptun3997 Views

Werter Neptun -

vielen Dank für Deine freundliche und ausführliche Antwort! Dank natürlich auch an die konstruktiv Beitragenden in den aufspleißenden Fäden ...

Ich verstehe nun, was Du gemeint hast. Und von der heutigen Realität aus gesehen würde ich Dir vollkommen zustimmen. Auf den Punkt gebracht und angelehnt an eine bekannte Redewendung würde ich sagen, die Demokratie aktuell ist Opium für 'das Volk'. Eigentlich weltweit. Glarus natürlich ausgenommen.*)

In der historischen Entwicklung - wie es so weit gekommen ist - sollte man meines Erachtens aber differenzien. Ich beschränke mich, damit ich nicht bei den Griechen anfangen muss, nur auf die Jahre ab etwa 1760. Für die "Founding Fathers" in den USA würde ich fast unterschreiben, dass sie von Anfang an die Lüge ein Stück weit mit eingebaut hatten. Man weiß heute, dass die reichen Grund- und Manufakturbesitzer sowie Händler stets das Heft in der Hand hatten und von Anfang an auf eine politische Struktur und Verfassung hingearbeitet haben, die sie von der GB-Monarchie unabhängig machen und ihnen freie wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen sollte. Die unteren Schichten waren zeitweise aber heftig am Mitdrängen in Richtung 'Freiheit' - merkwürdigerweise am Anfang unter merkbarer Führung der German Republic Society **). Aber sie hatten eigentlich keine echte Chance gegen die Hintertanen.

Im Falle der Revolution in Frankreich bin ich mir unsicher, weil ich trotz langer Recherche (liegt schon einige Jahre zurück) keine wirklichen Belege gefunden habe für eine ausländische initiativ steuerende Beteiligung (etwa in dem Sinne, dass England in Frankreich eine "Farbenrevolution" angezettelt hätte). Und auch die innerfranzösischen Kräfteverhältnisse sind mir nicht klar geworden (etwa in dem Sinne, dass bestimmte Fraktionen, wie Bankiers und Adlige, zusammen mit Geheimgesellschaften, einen gezielten Plan ausgeheckt und umgesetzt hätten). Ich habe bei diesen Recherchen - in fremder Sprache etwas mühsam - den Eindruck bekommen, dass die (heute gut bezahlten und betitelten) französischen Historiker genauso wenig Interesse hatten, die Untergründe der Revolution aufzuklären, wie die französischen Bürger heute die Ursachen des Brandes von Notre Dame interessieren ...

Von 1790 an bis zur Einführung des Frauenwahlrechts in Frankreich 1944 und in der Schweiz 1971(!) war die Entwicklung der Demokratie für viele Menschen jedoch ein aufrichtiges Anliegen, und es wurden hier echte Opfer gebracht. Deswegen mag ich es absolut nicht ertragen (und das war der Hintergrund meiner Frage), wenn sich jemand über die Demokratie mokiert. Ich empfinde das genauso, wie wenn jemand meint, man hätte die Sklaverei - die inzwischen in gleicher Größenordnung zurückgekehrt ist - eigentlich nicht abschaffen müssen. So argumentiert ja auch niemand bzw. nur wenige tun es wohl ...

Mein Standpunkt ist der: der heutige Bürger hat das Erbe seiner für die Demokratie einst kämpfenden Väter und Mütter nicht gepflegt, tritt es mit den Füßen, hat es verraten. Ich habe von daher kein Mitleid mit Schlafschafen.

Es gab, das sollte bei dieser Gelegenheit erwähnt werden, ein vergleichbares Projekt im Bereich der Wirtschaft, nämlich den Sozialismus (mit diversen Abarten von der Sozialdemokratie bis Kommunismus), dessen letzter ernsthafter Prozess die (wiederum deutsche) Mitbestimmung in den Betrieben war. Auch hier hat sich eine endlose Zahl von Idealisten abgearbeit, und am Ende hat es gar nichts gebracht. Es gibt bzw. gab weiter vergleichbare Projekte, ich nenne noch die Wissenschaft und die Technik. Hier habe ich teilweise noch Hoffnung, wiewohl ich die Schwierigkeiten sehe ...

Denn, und das kann man nicht nachdrücklich genug hervorheben, der Gegner im Hintergrund ist viel, viel stärker und kann weiter vorausdenken. So komme ich bei der Einschätzung des historischen Prozesses zu der Ansicht, dass die tatsächlich herrschende Macht viel aufmerksamer all diese Vorgänge beobachtet und sofort und nachhaltig eingreift, um ihre Interessen zu wahren. Sie hat ein viel größeres Instrumentarium, vor allem hat sie Zeit und einen langen Atem. Sie lernt blitzgescheit, die Formen, die Andere entwickeln, zu ihrem eigenen Nutzen einzusetzen. Sie wandelt, reaktionsschnell und parallel zum historischen Prozess, die von den Anderen angestrebte Milch mit Honig sofort in ein lähmendes Gift um, das ihren eigenen Zwecken dient.

Heute haben wir zweifellos eine Pseudodemokratie - und die demokratische Formen und Intentionen werden eiskalt mißbraucht. Ist damit, ähnlich wie im Falle des Sozialismus etc., das demokratische Projekt erledigt?

Das war der eigentliche Grund meiner Frage: was denn der Sinn der Demokratie sei.

Ich formuliere die Frage deshalb um (aber niemand muss antworten!):

Sollen diejenigen, die wesentlich die Last im ökonomischen Prozess (als Arbeiter und Konsumenten) und im politischen Leben (als Steuern und Abgaben zahlende Bürger) mittragen - sollen diejenigen auch angemessen an den Entscheidungen über die Struktur und Ausrichtung dieser beiden Prozesse sowie an der Verteilung der dabei geschaffenen Werte beteiligt werden? Gibt es gute Gründe, die für eine solche Mitentscheidung und Mitbeteiligung sprechen?

Diese Frage ist philosophisch formuliert und eigentlich aus der Sicht derjenigen gesprochen, die die Macht haben, Mitbeteiligung einzuräumen oder nicht einzuräumen.

Die Geschichte selbst stellt sich solche Fragen natürlich nicht. Sie arbeitet mit Hauen und Stechen.

Man wundert sich allerdings, wenn man das Ganze so beobachtet: warum eine (theoretisch) so große Überzahl an Hauern, sagen wir 7 Milliarden, mit einer so kleinen Minderzahl an machtvollen Stechern, sagen wir 400 Millionen, nicht 'fertig' wird.

Und da ist meine Antwort (bislang): Weil die 7 Milliarden sich nicht organisieren können. Sie haben die Demokratie verschlafen, den Nullzins und die betriebliche Mitbestimmung - und vieles andere mehr ...

Aber warum bloß?

Beste Grüsse, Weiner

*) Man sollte die 'direkte Demokratie' in der Schweiz natürlich etwas differenziert betrachten, siehe etwa hier:

https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/direkte-demokratie-ein-basler-professor-fordert-...

**) Hängt ein wenig damit zusammen, dass in D untergründig immer noch alte basisdemokratische Ideen rumgeistern, damals (trotz 1000 Jahre territorialer Herrschaft von irgendwelchen Kaisern, Königs, Kurfürsts, Grafen) wie auch heute noch. Und die nach Amerika Ausgewanderten litten an diesem Wahnsinn ganz besonders. Ich habe hier schon mal darauf hingewiesen, dass D formal heute immer noch D ein Bundesstaat ist - wie bei den aus gleicher Tradition stammenden Austriern und Schwyzern. Das ist weltweit gesehen etwas ungewöhnlich, hängt natürlich auch mit der geopolitischen Mittellage zusammen. Es sind aber, das lässt sich klar nachweisen, entsprechende deutsche Ideen in die Verfassung der USA nach 1776 eingeflossen. In der historischen Fortwirkung haben diese dann dazu geführt (auch das lässt sich belegen), dass unter US-Einfluß 1948/49 hier wieder eine föderale Grundstruktur angelegt wurde. Der geschichtliche Prozess selbst drängt aber immer zur Zentralmacht, die heute bei uns weitgehend realisiert ist.


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