Zum Termin erzwungene Abgabe vs. zum Termin gewohnte Hingabe

Ashitaka, Samstag, 03.08.2019, 10:01 (vor 1699 Tagen) @ Silke4757 Views

Hallo Silke,

Debitismus:
Sich verschuldende Systeme müssen von ihren Systemelementen Abgaben
erheben, um ihre Existenz als System und damit die Handlungsräume ihrer
Elemente und ihrer selbst finanzieren zu können.
Das nennen wir im "Kapital"ismus Tribut (nach extern) und Steuern (nach
intern) und früher Zinnß.

Die Stammes(gemeinschaft) als System verschuldet sich aber nicht. Da kann ich Mauss schon nachvollziehen, auch wenn ich da an seiner Stelle mehr hinterfragt hätte statt gleich wie bei Tom & Jerry drauf zu hauen.

In einer Gemeinschaft ist jedes Systemelement gezwungen, sein Potential
umfassend in das Fortbestehen der Gemeinschaft einzubringen.

Aber gezwungen durch wen oder was? Kann man von Zwängen bzw. Forderungen sprechen, wenn es niemanden gibt, der diesen Zwang mangels Sanktionsgewalt ausübt? War es nicht vielmehr die nackte "Ohnmacht" des Einzelnen im Verhältnis zur Machtposition der Naturgewalten? Niemand konnte allein überleben.

Die Natur als eine den Menschn in Ohnmacht stellende Machtposition stellt im Gegensatz zum bewusst denkenden Menschen keine Forderungen. Die Urschuld des Menschen, sie ist nach meinen Überlegungen ein ausschliesslich mentales Phänomen, entsteht eben erst dadurch, dass sich der Mensch seiner Schuld gegenüber sich selbst bewusst wird und durch die Vorstellung einer Zuwiderhandlung den Tod zu fürchten lernt.

Dabei müssen Individuen ihre individuelle Existenz riskieren.
Ein Grosswild muss im Kollektiv erjagd werden, indem die Systemelemente
Kopf und Kragen riskieren und auch hier ihre individuelle Existenz
riskieren.
Genau das ist u.A. die Abgabe an das System "Gemeinschaft".

Keine Abgabe, sondern eine Hingabe des Einzelnen. Es gab keinen Zwingherren, sondern nur die aus der Ohnmacht gegenüber der Natur gewonnenen Gewohnheiten. Die Gemeinschaft basiert nicht auf einer "wachsenden Verschuldung", die dann zu einer wachsenden Besicherungsnotwendigkeit einer Zwingmacht durch Abgabenerhebung und Sanktionen führt. Im Gegenteil, sie basiert aufgrund der mit dem Alleinsein faktischen Ohnmacht gegenüber der Natur auf einer natürlichen Hingabe.

Ebenso ist es die Zeit, die die Mitglieder für die Belange der
Gemeinschaft aufwenden.

Hingeben, nicht aufwenden. Es ging nicht um Überschüsse durch Zeitaufwand.

Die nichtnatürliche Person, das Konstrukt "Gemeinschaft" bedarf des
Aufwandes von Zeit, Energie, Kraft, Hirnschmalz, Emotionalität,
Kreativität und wasauchimmer durch seine Elemente.

Und kann diese nicht erzwingen, sondern sich darauf verlassen.

Sie bedarf des Vertrauens in ihre Mythen und ihre Chancen auf
Weiterbestehen.
Sie bedarf der Akzeptanz ihrer Regeln, Sitten und Gebräuche.
Sie bedarf der Legitimation von Sanktionsbefähigung und des Konsens zur
Regelung.
Sie bedarf des vollen Engagement der Gemeinschaftsmitglieder.
Sie unterscheidet sich im Kern nicht wirklich von einer Gesellschaft.

Nur im Kern.

Gemeinschaft = natürliches Kollektiv, der Ohnmachtpositionen des Einzelnen im Verhältnis zur Naturgewalt wegen. Keine Aufschuldung, kein nichthaltbares bzw. nur durch externes/internes Mehrverlangen haltbares Versprechen.

Gesellschaft = simuliertes Kollektiv, der Ohnmachtposition des Einzelnen im Verhältnis zur Zwingmacht und der sich hinter dem Versprechen der Zwingmacht (Ich verspreche euch eine goldene Zukunft solange ihr mir mehr gebt) mit dem Ende der Aufschuldung nicht mehr erfüllbaren Verbindlichkeit wegen.

Die Abgaben werden aber freiwillig gegeben, weil jeder sich als
Bestandteil der Gemeinschaft erlebt und zur Übernahme der Verantwortung
bereit ist.

Und so komme ich nur zum Schluss, dass es sich um eine Hingabe handelt.

Selbst in Bonobogruppen übernehmen Mitglieder die Verantwortung für die
Gruppe und agieren freiwillig zum Wohl und im Interesse der Gruppe.
In indigenen Gruppierungen wie den sogenannten "segmentären
Gesellschaften", Lineages, kindships, Clans, Stämmen usw. gilt gleiches.
Die Machtstrukturen sind bei z.B. Kung! und Nuer nur eben nicht
institutionalisiert
auf Häuptling und Heiler sondern konsensual
verteilt auf alle befähigten Mitglieder.
Stehen wichtige Alleinentscheidungen an finden sich die sog.
Funktionsautoritäten, die sich ob ihrer Befähigungen anbieten und
von den anderen durch Beipflichtung und Akzeptanz ihrer vorüber
gehenden
Machtposition legitimiert werden.
Ihre Macht endet automatisch mit Beendigung des Projektes, wie doch
@Ashitaka ausführlich auf Uwe Wesel, Christian Sigrist u.a. verwiesen
hat.

Diese natürliche Beendigung, die Sigrist sehr gut erklärt, darum geht es im Kern.

Stämme sind urschuldig weil sie leben.

Stämme sind sich nichts bewusst, leben nicht. Nur der Einzelne wird sich seiner Urschuld bewusst. Nur der Einzelne lebt (vermag etwas) deshalb und solange, wie er seine immer wieder anwachsende Urschuld tilgen kann.

Sie haben sich das Überlebensnotwendige zu verschaffen (das ist nun
einmal der Zins auf die Schuld "Leben müssen" - sich mit Körper, Geist
und gesamter Gemeinschaft dauernd kümmern).
Sag jetzt nicht, dass auch du das Urschuldkonzept noch nicht durchdrungen
hast, bei dem es darum geht, dass alles lebendige schuldig ist, um sein
Lebendigbleiben zu kämpfen indem es sich Potential und Ressourcen
verschaffen muss.
Das gilt für Stämme wie auch für Staaten.

Wer ist der Gläubiger und weshalb sollte von den Stammesmitgliedern etwas gefordert werden?

Dazu muss man sich halt mit dem Konzept des Zinnß beschäftigen.
Zins hat nichts mit Mathematik zu tun sondern ist die Abgabe, die
systemisch erhoben werden muss um den Systemelementen ein sie
beschützendes und gleichzeitig ausbeutendes System zu erhalten.
Die ersten Abgaben waren ja bekanntlich Tribut (extern) und Steuer
(intern) in Form von Naturalien.
Zinnß.

Aber doch nicht in nicht aufschuldbaren Stammesgemeinschaften. Keine Abgabe (Zinnß), sondern laufende Hingabe ohne Aufschuldungsorgie.

Schön, dass wir mal wieder solche Diskussionen führen. Hätte ich mehr Zeit, würde ich weiter antworten.

Herzlichst,

Ashitaka

--
Der Ursprung aller Macht ist das Wort. Das gesprochene Wort als
Quell jeglicher Ordnung. Wer das Wort neu ordnet, der versteht wie
die Welt im Innersten funktioniert.


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