Aufgewachsen als Rechtsextremist und Antisemit

also, Samstag, 06.07.2019, 16:32 (vor 1727 Tagen)5834 Views

Ich bin aufgewachsen in einem kleinen Bergbauerndorf, die Gemeinschaft dort legt großen Wert
auf Kultur und Tradition. Verschiedene Gruppierungen wie Trachtenfrauen, Gesangsverein und
Bergrettung feiern dort seit Generationen ihre Feste, zu denen alle eingeladen sind.
Als junger Dörfler war ich Mitglied in der Volkstanzgruppe, die in grobem Schuhwerk,
Leinenhemden und Lederhosen die einheimischen Tänze vorführte. Beim Tanz der Holzhacker,
bei dem Äxte und Baumstämme zum Einsatz kamen, kann man durchaus von einem martialischen
Auftreten sprechen. Das will ich gar nicht abstreiten. Doch die wahre Tragweite unseres Tuns
konnte ich damals in meinem jugendlichen Leichtsinn noch gar nicht erfassen. Erst jetzt, viele
Jahre später und nach dem Besuch eines Vortrags eines deutschen Sozialpädagogen, erkenne ich
die Dimension meines damaligen Auftritts. Immerhin ist die Sozialpädagogik die Wissenschaft
von Erziehung und sozialstaatlicher Intervention. Deshalb ist an der Richtigkeit der Aussagen
dieses Experten wohl nicht zu zweifeln. Ich werde versuchen, seine Ausführungen wiederzugeben.

Der Volkstanz ist eine Angelegenheit der nationalen Kultur. Männer haben ihre Haare zu
Scheiteln gekämmt, Frauen zu Zöpfen geflochten. Es wirkt wie aus der Zeit gefallen und im
Grunde ganz harmlos. Das ist es aber keineswegs. Schon die nationalsozialistische
Idee hatte die Körperformung zur obersten Maxime erklärt. Der Mensch war nicht mehr Individuum,
sondern Teil des Volkskörpers. Dieser Volkstanz ist nicht nur Paartanz, sondern oft ein
Gruppentanz, ausgerichtet auf eine Frontalsituation, die nicht zum Mitmachen einladet. Dem
wohnt schon per se ein Gewaltpotenzial inne. Wenn man den Antisemitismus vertritt und
eine Konzeption von Volk hat, in der es klar ist: Ein Jude gehört da nicht dazu, Homosexuelle
gehören nicht dazu und emanzipierte Frauen gehören auch nicht dazu, dann wird eben die
Problematik dahinter deutlich. Bemerkenswert ist auch, dass die Choreografen solcher Tänze,
die schon im letzten Jahrtausend als Speerspitze der künstlerischen Avantgarde galten,
ohne Zwang und mit großer Energie mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet haben. Diese
völkischen Sippen, die über Generationen in den Dörfern gewachsen sind, bestehen schon seit
der Zeit des Nationalsozialismus. Diese Gruppierungen eint der Glaube an die Überlegenheit des
eigenen Volkes, die Ablehnung einer weltoffenen und demokratischen Gesellschaft und ein
rassistisch-antisemitisches Weltbild. Bei dieser völkischen Ideologie wird oftmals nicht genau
hingesehen, obwohl diese Ideologie meist der Mutterboden ist, auf dem der Rechtsextremismus
gedeiht. Das Völkische kommt bürgerlich daher, organisiert keine Kundgebungen, sondern bleibt im
Hintergrund. Dass hier eine gefährliche Ideologie dahinter steckt, ist auf dem ersten Blick
kaum zu erkennen. Denn sie bemühen sich, nicht negativ aufzufallen. Doch nicht nur das: Sie
treten als nette und überdurchschnittlich engagierte Bürger in Erscheinung. Ob in Bürgerinitiativen,
Schulen oder bei Vereinen. Sie geben sich freundlich, ihre Kinder sind diszipliniert und fleißig,
fast vorbildliche Schüler. Doch hinter dieser Lebensweise verbirgt sich
"eine Menschen verachtende Logik". In Deutschland gibt es einen Verein, der sich "Amadeu Antonio"
nennt und der sich diesem rechtsextremen, völkischen Spektrum enschieden entgegenstellt.
Kinder aus dieser rechtspopulistischen Bewegung sollen schon frühzeitig im Kindergarten aufgespürt
werden. Deshalb gibt die Organisation Broschüren heraus, die Pädagogen in Kindergärten dazu anhält,
Kinder zu identifizieren, die in einem völkischen Elternhaus aufwachsen. Als Beispiel werden
angeführt Mädchen die Zöpfe und Kleider tragen, das auf einen Erziehungsstil mit traditionellen
Geschlechterrollen hinweist. Und der ist wiederum dem "rechtsextremen völkischen Elternhaus"
geschuldet, aus dem dieses Mädchen stammt. Eine klare Deutung ist nicht immer leicht. Kinder
rechter Eltern sind nicht unbedingt anders als Kinder anderer Eltern. Es braucht seine Zeit bis
sie auffallen, zum Beispiel weil sie sehr still oder sehr gehorsam sind. Diese Kinder scheinen
besonders gut "zu spuren". Diese Artgemeinschaft setzt ganz explizit auf eine Strategie der
Expansion und Infiltration. Nur durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit kann die Mehrheit der
Gesellschaft gegen diese völkische Bewegung immunisiert werden.

Dieser Vortrag wird in meinem Bergbauerndorf nichts ändern. Bis dorthin reichen die Worte des
Experten nicht. Aber vielleicht überkommt dem Pädagogen irgendwann der missionarische Eifer,
der ihn dann herauftreibt zu uns Rechtsextremisten. Am Wirtshaustisch ließe sich so manches
zu diesem Thema bereden. Einen Eindruck würde er auf jeden Fall hinterlassen, mindestens im Tisch.

also


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