Strategiepapier der DDR-Führung kurz vor ihrem Ende.

nereus, Mittwoch, 05.06.2019, 16:13 (vor 1759 Tagen)5483 Views

Bei Vera Lengsfeld bin ich auf einen Hinweis gestoßen, der mir bislang unbekannt war.
Sie skizziert den Niedergang der CDU und erinnert sich einmal mehr an vergangene Zeiten

Wobei es in der SED-Führung ganz am Ende zumindest den Versuch gegeben hat, das Ruder noch herumzureißen.
Der Planungschef Gerhard Schürer legte ein Strategiepapier vor, das handfeste Vorschläge machte, was geändert werden müsse.
Diese Vorschläge scheiterten an der Ignoranz von Parteichef Honecker.

Quelle: https://vera-lengsfeld.de/2019/06/04/die-cdu-fuehrung-hat-nichts-verstanden/

Da erwachte wieder der Trüffel-Schwein-Instinkt und es dauerte nur wenige Sekunden, um fündig zu werden.
Das Papier datiert auf den 30.10.1989 und lief als Geheime Verschlusssache, also allerhöchste Verschwiegenheit.

Was wollten denn die alten SED-Granden noch im letzten Moment verändern?
Nach anfänglichem Gesülze mit leichten kritischen Einlässen wird es dann schnell konkret.
Schade, dass denen das so spät eingefallen ist- aber irgendwann kann die Realität nicht mehr aufgehalten werden.
Wir lesen dort u.a.:

Seit 1970 wurden mehr als 3 Millionen Wohnungen neugebaut bzw. rekonstruiert und damit für 9 Millionen Menschen, d. h. mehr als die Hälfte der Bevölkerung der DDR, qualitativ neue Wohnbedingungen geschaffen.
Infolge der Konzentration der Mittel wurden zur gleichen Zeit dringendste Reparaturmaßnahmen nicht durchgeführt und in solchen Städten wie Leipzig, und besonders in Mittelstädten wie Görlitz u. a. gibt es tausende von Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind.
..
Die Feststellung, dass wir über ein funktionierendes System der Leitung und Planung verfügen, hält jedoch einer strengen Prüfung nicht stand. Durch neue Anforderungen, mit denen die DDR konfrontiert war, entstanden im Zusammenhang mit subjektiven Entscheidungen Disproportionen, denen mit einem System aufwendiger administrativer Methoden begegnet werden sollte. Dadurch entwickelte sich ein übermäßiger Planungs- und Verwaltungsaufwand.
..
Die vorgegebene Strategie, dass die Kombinate alles selbst machen sollten, führte zu bedeutenden Effektivitätsverlusten, die sich aus der objektiv notwendigen Vertiefung der Arbeitsteilung und zunehmenden Kooperation ergebenden Effekte konnten nicht genutzt werden. Dadurch trat u. a. eine Tendenz der Kostenerhöhung ein, wodurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit abnahm.
Das bestehende System der Leitung und Planung hat sich hinsichtlich der notwendigen Entwicklung der Produktion der "1000 kleinen Dinge" sowie der effektiven Leitung und Planung der Klein- und Mittelbetriebe und der örtlichen Versorgungswirtschaft trotz großer Anstrengungen zentraler und örtlicher Organe nicht bewährt, da ökonomische und Preis-Markt-Regelungen ausblieben.

Quelle: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/w5.grenze.1989_10_30_PB_Vorlage_Schuerers_...

Daran erinnere ich mich gut.
Das Energiekombinat Berlin (Ost) sollte u.a. Karnickelställe produzieren. [[lach]]
Auf so eine Idee können nur Funktionäre kommen und wir schüttelten schon damals den Kopf.

Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR gegenwärtig um 40 % hinter der BRD zurück. Im Einsatz des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens sowie der zur Verfügung stehenden Ressourcen besteht ein Missverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Überbau und der Produktionsbasis.
Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen,
die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt.

Jetzt wird auch der Geheimhaltungsgrad des Dokuments verständlich. [[freude]]

In bestimmten Bereichen der Volkswirtschaft sind die Ausrüstungen stark verschlissen, woraus sich ein überhöhter und ökonomisch uneffektiver Instandhaltungs- und Reparaturbedarf ergibt. Darin liegt auch eine Ursache, dass der Anteil der Beschäftigten mit manueller Tätigkeit in der Industrie seit 1980 nicht gesunken ist, sondern mit 40 % etwa gleichblieb.
..
Das Wachstumstempo des Nationaleinkommens 1986 – 1990 liegt voraussichtlich mit 3,6 % bei abnehmender Tendenz bedeutend unter den erreichten Ergebnissen bis 1985. Dieser Faktor des langjährigen Rückgangs der produktiven Akkumulation wird auch nach 1990 noch wirken.

Nun ja, diese Perspektive erledigte sich von selbst.

Im Zeitraum seit dem VIII. Parteitag wuchs insgesamt der Verbrauch schneller als die eigenen Leistungen. Es wurde mehr verbraucht als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW, die sich von 2 Mrd. VM 1970 auf 49 Mrd. VM 1989 erhöht hat.
Das bedeutet, dass die Sozialpolitik seit dem VIII Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im NSW führte.
Hinzu kommt, dass das Tempo der Entwicklung der Geldeinnahmen der Bevölkerung höher war als das des Warenfonds zur Versorgung der Bevölkerung.
Das führte trotz eines hohen Niveaus der Versorgung zu Mangelerscheinungen im Angebot und zu einem beträchtlichen Kaufkraftüberhang.

Das soll genügen.
Weiter hinten werden auch auf die Staatsverschuldung und die Exporte in das NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftssystem) Bezug genommen.

Interessant ist allerdings, daß die Verantwortlichen viel zu lange damit warteten.
Das Papier kam mindestens 10 Jahre zu spät, unabhängig davon, ob ein früheres Erwachen auch wirklich etwas Positives bewegt hätte.
Dieses „viel zu spät“ weckt allerdings böse Ahnungen.

Doch ein Schmankerl möchte ich noch zum Abschluß in die Runde werfen.
Auf Seite 10 steht geschrieben.

Mit diesen in Abschnitt IV dargelegten Vorschlägen lässt sich die DDR als Land des Sozialismus, als Mitglied des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe leiten von der Politik der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, von der Politik des Dialogs der Vernunft und der Entspannung.
Dabei schließt die DDR jede Idee von Wiedervereinigung mit der BRD oder der Schaffung einer Konföderation aus.

Das ist dann doch interessant.
Die oberste SED-Riege brachte eine Konförderation ins Spiel.
Wie kam sie denn auf diese Idee? [[hae]]

Und jetzt der Brüller!

Als Zeichen der Hoffnung und der Perspektive ist die DDR bereit, 1995 zu prüfen, ob sich die Hauptstadt der DDR und Berlin (West) um die gemeinsame Durchführung der Olympischen Spiele im Jahre 2004 bewerben sollten.

Da staunt man nur noch.
DIE wußten alle Bescheid und kein Schwein machte irgendwelche Anstalten ein wenig den Vorhang zu heben – auch der Westen nicht.

In diesem Sinn hat sich überhaupt nichts geändert und wenn es diesmal knallt, werden die meisten Involvierten sich wieder äußerst überrascht geben. [[sauer]]

mfG
nereus


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