(Zentral-) Macht ist nicht der Anfang sondern das Ende ...

Weiner, Donnerstag, 28.03.2019, 11:30 (vor 1856 Tagen) @ Silke3214 Views

... von evolutionären bzw. geschichtlichen Entwicklungen.

Ich danke Dir, liebe Silke, für Deine ausführliche Antwort! Irgendwo habe ich ein Textbruchstück abgespeichert, mit dem ich Deinen vorletzten an mich gerichteten Beitrag zum eigentlich gleichen Thema beantworten wollte, beginnend mit irreversiblen thermodynamischen Prozessen und dissipativen Strukturen ... aber irgendwie klappt das halt zeitlich nicht mit der angemessenen Ausführlichkeit. Und passt vielleicht auch nicht ins Forum. Und dann sage ich mir: lieber nichts als etwas Bruchstückhaftes, auch wenn es unhöflich erscheint ...

So will ich diesmal wenigstens ein paar jener Punkte ansprechen, die Du aufgeworfen hast - alle schaffe ich nicht.

Der @dottore hat lang und breit erklärt, dass immer Machtsysteme vor
Handelssystemen kommen müssen

Tun sie nicht. Die Altwege, wie etwa die Feuersteinstrassen (siehe Wiki), waren nicht von Zentralmächten organisiert, nichteinmal abschnittsweise. Aber sogar in historischer und quellengestützter Zeit ist das immer anders belegt, Handel geht voraus und wird erst dann von der Zentralmacht in ihren Dienst genommen, wenn letztere sich (endlich) einmal konstituiert hat.

Dazu ein erstes Beispiel: Die im Dorf namens ROM zusammenlebenden Großfamilien (gentes) bzw. ihre (Jung-) Männer gingen sehr gern auf Raubzüge. Und was sie dabei stahlen, behielten sie ein jeder für sich. Erst spät in der Geschichte dieser Raubzüge, als man spezielle Kriegstechniken anwendete (Formationen, Zusammenspiel verschiedener Waffengattungen etc.), die einen Koordinator und Anführer benötigten, wurde nach einem Sieg entsprechend auch über eine neue Verteilung der Beute nachgedacht. Es wurde dann immer noch derart gelöst, dass eine Familie bzw. deren 'Hausvater' zwar 'gemeinschaftlich' erbeutete Sklaven bekam, jedoch konnte er mit diesen Sklaven nicht machen, was er wollte. Sondern sie standen gewissermaßen unter der Beobachtung der Gemeinschaft (wie die Allmende), und man konnte ihm ggfs. die Beute wieder entziehen. Und erst viele Generationen später rang man sich zu der Erkenntnis durch (und konnte es sich materiell leisten), dass ja die (eigentlich fiktive!) Gemeinschaft selbst Eigentum an einem Sklaven halten konnte: man hat diese Sklaven dann als Helfer bei Kulthandlungen oder (zeitlich noch später) in der Verwaltung eingesetzt. Ab diesem Zeitunkt erst waren sie Sklaven in Staatsbesitz. Und ab da gab es dann den römischen (Zentral-) Machtstaat, aber auch nur, in jener Zeit, in sehr embryonaler Gestalt.

Ganz ähnlich war es auch mit dem Handel. Der war Angelegenheit der (Groß-) Familie, sowohl nach außen, wie auch innerhalb des Dorfes. Viele der späteren Adelsfamilien sind an ihren Ursprüngen nur aus Italien deshalb nach Rom umgezogen, weil sie im Schutz dieser sehr speziellen 'römischen' Dorfgemeinschaft (die anfangs gar keinen guten Ruf hatte ...) etwas freier und flexibler ihren Handwerken und Handelsgeschäften nachgehen konnten - und weil eben dort die Grauzonen zum gemeinschaftlichen, kooperativen Raub sehr ausgedehnt waren ...

Und wie kamen die Könige nach Rom. Bitte nachlesen: es waren Fremde, die berufen wurden. Und die Durchsetzung des ersten Machtanspruches erforderte dennoch ein Sakrileg: egalitär kooperative Gemeinschaften tun sich sehr schwer, zuhause (!) und aus sich heraus einen König zu installieren (und es hielt in Rom ja auch nicht lange ...). Auf Wanderschaft, auf Kriegszug oder in Notzeiten ist es einfacher. Dennn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass bei internen Konflikten eine Spaltung entsteht - was auch wieder niemand will. Wie selbst der schon sehr starke Heerführer dem 'alten Recht' nachgeben und sich Tricks einfallen lassen muss, um seine 'Macht' immer wieder darzustellen, schildert sehr anschaulich die berühmte Geschichte vom "Kelch von Soissons":

https://www.welt.de/print/wams/kultur/article13737547/Oh-Gott-lass-mein-Land-Grossmacht...

Ganz anderes Beispiel: Der UrUrUrgroßvater von Mohammed Prophetus (Allah sei ihm gnädig!) war ein Clan-Chef unter vielen absolut autonomen Clan-Chefs im Raum Mekka. Die Clans und Stämme, wenn sie auf Handels(!!!)-Reise waren, um Ziegen gegen Kamele zu tauschen, waren außerhalb von Mekka in Feindesland (dem Territorium anderer Stämme). Jeder andere Clan (oder eine Clan-Koalition) konnte sie überfallen, so wie auch sie jeden überfielen, der an Mekka vorbeizog und nicht wehrhaft genug war. Besagter Urahn von Mohammed (Allah sei ihm gnädig!) kam auf folgende Idee und konnte seine Nachbar-Clan-Chefs nach langen Diskussionen davon überzeugen: dass man ein Mal im Jahr für eine bestimmte Zeit einen Frieden ausrief und gemeinsam garantierte (kooperative Handlung der Clan-Chefs!), während dem alle fremden Stämme im Raum Mekka sich treffen können sollten - für einen freien Handelsaustausch und freie Kommunikation. Jeder sollte seinen eigenen Gott mitbringen dürfen, ohne dass man sich gegenseitig heruntermachte und beleidigte: was hast Du für einen mickrigen Gott! Der bringt Dir ja gar keinen Segen (Baraka). Diese Auszeit-Idee hat dann sehr gut funktioniert und den Handel sehr belebt, hat alle zufrieden und die Mekkaner reich gemacht - auch wenn die Gäste sich oft in der Nacht heimlich davonschleichen mussten, denn außerhalb des Bannkreises und 'Götterfriedens' waren sie wieder 'vogelfrei'. Fazit: Hier geht Handel ganz gewiss der Zentralmacht voraus.

Jetzt kommen wir aber zum UrUrUr-Enkel (Allah sei ihm gnädig!): der hatte einen Vorschlag, der gegenüber der Rechtskonvention seines Großvaters genauso abwegig war, wie der einstige Vorschlag des Großvates gemessen am uralten Recht: Mohammed wollte die Vielgötterei abschaffen. Sagte er wenigstens. Zu dem Zeitpunkt war er arm und vielleicht krank, und man verachtete ihn. Weil er sich dem Mainstream widersetzte, war er ihn Gefahr und musste letztlich fliehen. Es hat ihm das Leben gerettet, dass er von einer egalitären und kooperativen Gruppe aus Medina unterstützt wurde. Ähnlich wie ein anderer Führer hat er sich besonders aufgrund seines 'Redetalentes' zum Alpha aufschwingen können (wie der andere hatte auch er nur in wenigen Augenblicken seines Lebens aktiv eine Waffe in der Hand, protzig rumhängen hatte er sie dagegen, wie auch der andere, häufiger ...). Und Mohammed - Allah sei ihm gnädig! - stellte zugleich eine weitere Forderung, die tausend Mal wichtiger war als die Abschaffung der Vielgötterei: Bedingung einer Beteiligung im neuen Gruppenverband war, dass innerhalb seiner Räuberbande nicht mehr Blut- und Verwandtschaftsrecht sollte, sondern alles gehörte allen gemeinsam und wurde nach Verdienst und ggfs. nach dem Spruch des Anführers verteilt. Wenn der Raubzug oder die Schlacht gewonnen wurde ...

https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeindeordnung_von_Medina

Wie ist die Spaltung zwischen (späteren) Sunniten und Schiiten entstanden? Aus Streit über das persönliche Erbe von Mohammed. Die Gruppe wollte, dass es unter allen verteilt würde. Fatima, die Tochter, beanspruchte es (nach der alten Regel) für sich. Das Kuriose am Ausgang ist, dass in der Folge der Streitigkeiten die alten Adelsfamilien aus Mekka die Macht an sich reissen konnten, eben die UrUrEnkel jener, die Mohammed einst die Kehle durchschneiden wollten.

Macht ist etwas sehr, sehr Kompliziertes. Ich verweise nochmals auf den Film über die Kriegeraffen, der eigentlich Film über viele grüne Blätter heißen sollte - der aber dennoch sehr schön zeigt, dass bereits im Tierreich die rohe Gewalt nicht ausreicht. Es gibt in Wirklichkeit keine Alpha-Männchen sondern nur kooperative Alpha-Konfigurationen mit einem Anführer (der ständig in Gefahr schwebt). Weil Macht so kompliziert ist, ist sie auch immer so fragil (und dadurch das größte Unruhemoment in der Geschichte). Weil sie so fragil ist, sucht sie stets nach neuen Instrumenten, sich selbst zu erhalten - und greift deshalb auf das gesamte Inventar der dem Menschen zur Verfgügung stehenden Möglichkeiten zurück. Aber die Macht erschafft diese Instrumente keineswegs. Technik, Geld, Handel, Kunst, Religion etc. etc. sind alle auch ohne Macht vorhanden. Sie werden durch die Macht nur perfektioniert (und in Dienst genommen). Die Macht selbst ist überhaupt nicht schöpferisch, ganz im Gegenteil - fast möchte ich sagen, die rohe Macht, wenn sie entkleidet ist und ohne ihre Diener dasteht, ist primitiv und dumm. In gewisser Weise sogar lächerlich. Man sieht das am besten am Ende von Diktaturen. Da darf dann, meist nur für einen Moment, das so genannte 'Volk' triumphieren - wo es doch eigentlich über seine vorherige Dummheit sich schämen sollte.

Noch ein paar Worte zur Vorfinanzierung. In der Natur gibt es sie nicht. Die Natur lebt aus dem Überschuß und Überfluss (muss natürlich erarbeitet werden, siehe Thermodynamik!). Im existentiellen Fall ist es eben das 'Vermögen', das eine Generation der nächsten mit auf die Reise gibt. Die Schildkröte bildet in sich und legt in den Sand ihre Eier. Rest geht von alleine. Moralisten mögen das dann Ur-Schuld nennen. Es ist aber keine Schuld sondern die Freiheit, Größe und die Kunst des Lebens. Der Same enthält einen Keimling und ein Fresspaket, das die Eltern zusammengestellt haben, manchmal kommt noch eine Fütterung und 'Lehre' hinzu. Der Keimling wächst dann zu einem riesigen Tier oder Baum aus, und nehmen wir als Beispiel die Eiche, so produziert sie im Laufe ihres vielhundertjährigen Lebens zig Tonnen an neuen Eicheln. Soll man das Ur-Schuld oder Vor-Finanzierung nennen? Derartige Begriffe nenne ich krämerisch!

Genauso ist es im Menschlichen und Geschichtlichen. Wenn das Wikinger-Dorf mal ein paar gute Jahrzehnte hatte, dann sind viele Töchter und Söhne großgewachsen und stecken voller Tatendrang. Dann gehen die Söhne halt auf Fahrt in die Rus und rauben andere Dörfer aus und verkaufen die Gefangenen als Sklaven an den Kaiser von Byzanz. Und weil sie unterwegs einen guten und starken Eindruck auf die Slawen an der Wolga machen (die ja bekanntlich immer unter sich zerstritten sind), laden die Slawen an der Wolga die Wikinger ein, über sie zu herrschen - gegen Kost und Verpflegung ... Und jetzt kommt nach 1000 Jahren ein Analytiker daher und behauptet: ein Dorf in Südschweden hat den Handel nach Byzanz und die Entstehung des Russischen Staates vorfinanziert. Ich krieg mich nicht mehr! Ja, der Bär finanziert mit Bauchspeck seinen Winterschlaf vor. Frag den Bären!

Falls jemand Fachliteratur braucht: etwa von Walter Eder "Servitius Publica - Untersuchungen zur Entstehung, Entwicklung und Funktion der öffentlichen Sklaverei in Rom" (Wiesbaden 1980). Gemeint sind hier mit 'öffentlich' die Sklaven des Staates [der als eigene Körperschaft aufgefasst wird]. Der Reiz des Buches liegt darin, dass es unbeabsichtigt und nebenbei aufzeigt, wann und wie sich Rom, ein Haufendorf mit ein paar Dutzend tüchtigen Familien, als Staat begriffen und verstanden hat. Das war ein langer (geistig-kultureller!!) Entwicklungsprozess ...

Zum frühen Handel ist online verfügbar https://helios-eie.ekt.gr/EIE/bitstream/10442/.../A01.053.0.01.pdf

"Trading in prehistory and protohistory" von A Michailidou (2008)

Hauptproblem ist die Definition des Handels. Neandertaler hatten ihr (ggfs. bewegliches) Revier mit 50 km Durchmesser. Sie haben nicht gehandelt. Homo sapiens von Anfang an.

Die entscheidende Frage ist: warum fügt sich in der zuvor egalitären Gruppe die Mehrheit dem "Mächtigen" - ein Akt, durch den die Mehrheit erst "den Mächtigen" konstituiert. Bei der Antwort kommen wir in den Bereich der Thermodynamik, deshalb breche ich hier lieber ab. Der Mächtige ist niemals alleine mächtig. Macht ist eine gruppendynamische Angelegenheit, eine letztlich harmonische Konfiguration. Ist sie gefunden, ist die Gruppe als ganzes sehr viel 'effizienter', auch wenn der Einzelne in ihr leiden mag. Und ganz eindrücklich zeigt sich derartige Effizienz im Ausrauben, Ausbeuten und Unterdrücken. Es stehen der Gruppe (die nun ein neuer Organismus ist) dann alle Türen offen. Bis eine stärkere Gruppe kommt. Oder bis sie, den Gesetzen und Zyklen der Zeit entsprechend, innerlich zerfällt.

Ich muss mich leider aus der Diskussion verabschieden. Ich hoffe, die Banalitäten, die ich erzählt habe, waren wenigstens kurzweilig!

Liebe Grüße, Weiner


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