Märchen und Sagen stabilisieren das kulturelle "Ich"

Phoenix5, Mittwoch, 20.03.2019, 14:25 (vor 1862 Tagen) @ Rain2448 Views
bearbeitet von unbekannt, Mittwoch, 20.03.2019, 14:58

Hallo Rain!

Märchen und Sagen verbinden die unbewusste Symbolik ("Es") mit einer Moralphilosophie ("Über-Ich") und haben deshalb in der Kultur einen wichtigen erzieherischen Auftrag. Erst in dem Spannungsfeld aus Trieben/Bedürfnissen (Es) und Geboten/Verboten (Über-Ich) kristallisiert sich ein selbstreflexives Ich heraus.

Der Verlust der Märchen geht systemisch Hand in Hand mit der Rückabwicklung der Kultur. Das erzieherische Element der Kultur geht verloren (sowohl zu Hause, als auch eben in den Geschichten, welche die Kultur hervorgebracht hat). Verkauft wird das ganze als Selbstverwirklichung bzw. Ich-Verwirklichung. In Wahrheit entspricht dieser Prozess einem Ich-Verlust. Ohne Normen/Gebote/Verbote gibt es kein Spannungsfeld, keinen Gegenpol zum Animalisch/Triebhaften. Die Folge ist eine Verkümmerung des Bewusstseins und der geistigen Anspannung. Das Ich verliert seine Stabilität und seine moralischen Selbstverständlichkeiten, wird chaotisch, impulsiv und leidet unter Aufmerksamkeitsdefiziten. Der Verlust dieses moralisch/ethischen Kanons muss vom Staat immer stärker durch die Gesetzgebung berücksichtigt werden (da der moralische Gruppendruck abnimmt) und dieser ist gleichzeitig aus finanziellen Gründen und Gründen der juristischen Komplexität nicht in der Lage, diese Gesetze auch wirklich zu exekutieren. Die Kultur degeneriert moralisch.

Mittelfristig kann und wird dieser Verlust eines kulturellen Wertekanons der intellektuellen Schicht noch ein letztes großes philosophisches Aufbäumen bescheren, weil das Hinterfragen von vormals unbewusst-kulturellen Werten und Normen, die Welt plötzlich so transparent darstellt, wie niemals zuvor (die zivilisatorische Wachheit). Für einen, im historischen Maßstab kurzen Moment erleuchtet das maximale Bewusstsein die für gewöhnlich unbewussten Prozesse. Das Über-Ich leuchtet analytisch in die dunkle Welt des Unbewussten hinein. Die Folge ist eine Phase großartiger Philosophie, welche die Zeiten kulturübergreifend in Form von schriftlichen Aufzeichnungen überdauern kann.

Langfristig aber läutet dieser "Peak Bewusstsein" den Abbau des bewussten Geistes ein. Der Mensch reprimitiviert. Sobald das Volk immer stärker auf sich allein gestellt ist, der Staat, als letzte Über-Ich-Instanz, sich nach und nach aus der Verantwortung nimmt, übernimmt das Unbewusste wieder die Herrschaft. Stammesähnliche Tabus, die nicht mehr hinterfragt werden, übernehmen zur Organisation der Gruppe das Zepter. Die zweite Religiosität (Religion als Mutter aller "Märchen") kommt auf und beginnt über die Jahrhunderte zu dogmatisieren (Fellachentum).

Der Unterschied zwischen Märchen und Videospielen, ist der Grad an Freiheit. In Märchen nutzt der (Anti-)Held, wenn überhaupt, dann zuerst seine Freiheit aus und sein Scheitern lässt ihn freiwillig in die moralischen Zwänge zurückkehren, weil er sie als nützlich oder gottgegeben erkennt oder er scheitert als Reaktion auf das Negieren von Werten auf ganzer Linie. Die Märchen leben also auf einer Meta-Ebene aus, was in der Kultur undenkbar scheint und festigen am Schluss das Nicht-Hinterfragen dieser Tabus. In Videospielen gilt nur die Freiheit - die Verherrlichung des Ichs, die sich im besten Fall, in online-Games, den Zwängen der Gruppenpsychologie unterwirft. Aber ein Abenteuer, an dessen Ende Moral und Tugend als Weg zur geistigen Vervollkommnung dargestellt wird, ist damit meist nicht verbunden (wenige Ausnahmen, in Form mancher Rollenspiele, bestätigen die Regel).


Beste Grüße
Phoenix5


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