Vernachlässigung unserer Muttersprache im Schulunterricht

Leserzuschrift, Sonntag, 17.03.2019, 18:28 (vor 1864 Tagen)6780 Views

Offener Brief an Frau Dr. Angela Merkel zur Abschaffung des schriftlichen Deutschabiturs und der Vernachlässigung unserer Muttersprache im Schulunterricht.


Werte Frau Dr. Merkel,

ich bin weder Lehrerin noch Germanistin, aber ich liebe unsere Sprache. Ich lebe in Wismar und machte dort 1995 mein Abitur. Nun habe ich einen Neffen, der seit drei Jahren dasselbe Gymnasium besucht. Als ich damals von seiner Aufnahme in diese Schule hörte, war ich sehr froh, da ich mir viel davon versprach, denn ich hatte mit zunehmendem Schecken verfolgt, daß in seinen vorhergehenden Schulen wenig Wert auf das Erlernen des korrekten Gebrauchs der deutschen Sprache, Rechtschreibung, Grammatik, Ausdruck etc. gelegt wurde und er all dies sehr schlecht beherrschte, auch das Lesen. Zum Beispiel schrieb er in der 5. Klasse eine Deutscharbeit, in der waren über 30 Rechtschreibfehler (auf einer Seite), jedoch stand als Zensur darunter eine 2 neben dem Vermerk, es hätte eine 1 sein können, wären da nicht „einige" Rechtschreibfehler. Es waren über 30, aber sie waren nicht alle angestrichen, und es wurde auch keine Berichtigung verlangt. Das schockte mich. Und er sah verständlicherweise keinen Grund, sich anzustrengen, er hatte ja eine 2.
Ich begann, mit ihm Bücher zu lesen und auch das Schreiben zu üben, setzte große Hoffnungen auf das Gymnasium und erzählte ihm, da würde er es können müssen, denn Gymnasium sei schwer, denn als ich dort war, bekam man eine 1 nur für 0 Fehler, eine 2 für einen Fehler und so weiter. Nun stellte ich leider fest, daß es gar nicht mehr so ist. Auch dort scheint der Rechtschreibung keine Wichtigkeit mehr beigemessen. Es werden keinerlei Diktate geschrieben und kaum einmal Rechtschreibung zensiert. Somit sehen die Kinder keinen Grund, eine Besserung anzustreben. Mir ist unbegreiflich, wie das sein kann.
Ist es nicht wichtig, seine Muttersprache zu beherrschen, damit man seine Gedanken ausdrücken kann und jeder sie versteht? Braucht man das nicht in allen Lebensbereichen? Braucht man das nicht als Mensch?
Was ist da nur passiert?

In dieser Woche nun erzählte mir mein Neffe, daß er gar keine Deutschprüfung mehr wird schreiben müssen, sondern sich mündlich prüfen lassen kann.
Welch ein neuer Schock.
Welch ein Unbegreifen meinerseits.
Ich gebe zu, ich wünsche mir immer noch, es könnte ein Scherz sein.
Wie kann es das nicht?
Zu meiner Zeit war Deutsch ein Leistungskurs, den alle besuchen mußten, mit 6 Stunden in der Woche, und am Ende gab es eine große schriftliche Prüfung. Die war schwer, aber schaffbar. Mein Neffe wird nun nicht mal mehr einen Anreiz haben, seine Schreib- und Lesekenntnisse weiterhin außerhalb der Schulzeit zu verbessern, denn wozu, wenn es keine schriftliche Prüfung gibt, in der er zeigen müssen würde, was er kann und was nicht?

Ich bin völlig verwirrt, weil ich nicht begeife, worauf das hinauslaufen soll. Meine Sorge um die Kinder und Jugendlichen unseres Landes wächst von Jahr zu Jahr. Sorge darum, was ihr Leben ihnen wird bieten können und was nicht. Ich wende mich auf diese Weise an Sie, da ich schon früher in Anbetracht des unzureichenden Deutschunterrichts je einen Brief an die Bildungsministerin Mecklenburg-Vorpommerns, Frau Hesse, sowie an Frau Prof. Dr. Wanka in Bonn schrieb, aber niemand antwortete.

Ich, die ich eine sehr schüchterne Schülerin war und im Unterricht nie freiwillig sprach, begriff doch im Laufe der Jahre, daß aus Schüchternheit zu schweigen nicht der beste Weg ist, denn am Ende kommt der Gedanke, um zu quälen: „Hättest du nur was gesagt, warum hast du nicht? Vielleicht wäre etwas anders geworden."
Man wünscht ja. Und hofft. Muß das naiv sein?
Was ist wichtiger für ein Land als die Bildung der Kinder?
Ist nicht das Beherrschen der eigenen Muttersprache die Grundlage?
Ich hatte so viel Hoffnung auf das Gymnasium gesetzt.
Worauf setze ich sie nun?

Wenn die Kinder in den vergangenen 20 Jahren schlechter in Deutsch wurden, kann die Lösung doch nicht sein, die Prüfung abzuschaffen! Die Lösung ist anderes Lehrmaterial.
Haben Sie mal ein Deutschbuch und die heutigen Arbeitsblätter, die den Kindern gegeben werden, zur Hand genommen und verglichen mit denen von vor 20 Jahren? Die Antwort auf die Frage: Wie konnte das Niveau so absinken, steckt darin und das so offensichtlich, wenn das erste Kapitel im Deutschbuch der siebten Klasse des Gymnasiums lautet: „Wie man ein Internetprofil erstellt“. Und bitte sagen Sie nicht, das waren andere Zeiten, und die seien veraltet.
Menschsein veraltet nicht.
Mensch wird immer dasselbe brauchen, um eine Chance auf ein als erfüllt gefühltes Leben zu haben: Herz und Verstand. Es ist allein die Kulisse, die sich im Laufe der Jahrzehnte wandelt. Unsere ist eine der Technik und des Konsums, in der Herz und Verstand zu leichtfertig von bunten Bildern erstickt werden.
Ist es nicht da um so wichtiger, daß Kinder erfahren, es gibt noch anderes, und sie können es sich erschließen, wenn sie in der Lage sind, Bücher, Texte, aufgeschriebenes Wissen zu verstehen? Wenn sie erfahren, daß der Mensch heute gar nicht so anders als zu anderen Zeiten ist, weil er immer seinen Weg durch das Leben und seine Zeit zu finden suchen mußte und dabei Hürden überwinden und stolperte, aber auch Möglichkeiten fand, sich wieder aufzurappeln, und wie? Und wie oft war es durch Bildung!
Ich glaube, das Wort wird heute völlig falsch benutzt und auch verstanden, denn es bedeutet nicht, daß man mit Technik umgehen kann und sich im Internet auskennt. Was bedeutet es, werte Frau Merkel?

Wir haben einen solchen Reichtum an Menschen aus Literatur, Kunst, Philosophie, Politik vergangener Jahrunderte (man erwähne zum letzteren nur Friedrich den Großen und sein schweres Aufwachsen unter seinem Vater), deren Lebensumstände und Ziele und Sorgen zu kennen für Jugendliche bereichernd sein könnte. Jugendliche brauchen in der Schule keine „Digitalisierung“, sie brauchen Vorbilder. Sie brauchen jemanden, der zweifelte wie sie und nicht wußte wohin wie sie und was aus seinem Leben zu machen und doch durchaus Ziele fand, die diesem seinem Leben Sinn gaben.

Mein Neffe sagte einmal zu mir: „Vorbilder hat unsere Zeit ja irgendwie gar nicht.“ Daran schockte mich nicht, daß es so ist, sondern daß er es auch so empfand.
Ich lese ihm manchmal kleine Dinge vor, die zum Beispiel Goethe sagte, und sehe ihn darüber staunen, weil Goethe, so wie er ihn in der Schule kennenlernte, für ihn nur ein Name gewesen war, nicht ein Mensch, der seinen eigenen schweren Weg zu gehen hatte und dabei einmal jung war wie er und suchend wie alle Jugendlichen es sind.
Menschsein ist unveraltbar.
Menschsein braucht keine Digitalisierung. Menschsein braucht Herz und die Möglichkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Das kann man nur, versteht man Texte und kann seine eigenen Gedanken ausdrücken mit mehr als 800 Wörtern, sind Gedanken doch so viel komplexer, schon in Kindern, ehe sie überhaupt Worte finden. Wer sich nicht ausdrücken kann, wird frustriert. Wer nur einfachste Texte versteht, wird beeinflußbar, und wer wird leichter beeinflußt als Menschen durch das Internet?
Um dem standzuhalten, braucht man eine gute Grundbildung. Ist nicht die Schule der Ort, der diese sein Ziel nennen sollte?
Was ist Grundbildung, wenn nicht die eigene Sprache zu beherrschen, verstehen und umfassend gebrauchen zu können, um sich damit dann alle anderen Themen je nach Wunsch und Interesse zu erschließen?
Ist das wirklich heute nicht mehr das Ziel oder wird für die Kinder unserer Zeit zu schwer genannt?
Wie nur ist das möglich?
Ich sah in den zehn Jahren, die mein Neffe nun Ihre Schulen besucht, das Gegenteil geschehen, und es schockt mich noch bei jeder Neuerung wieder. Diese nun, die da lautet: Kein schriftliches Deutschabitur mehr, ist der Tiefpunkt.
Wie rechtfertigen Sie das?
Wer kann es rechtfertigen?
Oder muß die eigentliche Frage lauten, wer will es?
Was für ein Ziel nur verfolgen Sie mit solch einem Beschluß?

Ich bitte um Antwort. Ich denke, sie steht mir zu, aber …

Unser Land scheint sich auf einem fürchterliche Abstieg zu befinden, der nicht sein müßte. Mit Kindern beginnt ja alles. Sie sind die Samen, aus denen Landschaft wird.

Sie können sich nicht vorstellen, wie gern ich glauben würde, ich lebe in einem Land, in dem solche Anliegen wie das meine tatsächlich vom Staatsoberhaupt ernstgenommen und beantwortet würden. Friedrich der Große sah sich die Zustände seines Volkes mit eigenen Augen an und erhörte Probleme. Monatelang fuhr er in seiner Kutsche von Dorf zu Dorf und ließ zahllose Obstbäume dort pflanzen, wo die Dorfbewohner kein Obst hatten, wußten Sie das? Ich wußte das lange auch nicht, und die Kinder von heute werden es nie erfahren, weil sie die alten Bücher, in denen das aufbewahrt wurde, nicht mehr werden lesen können, weil sie der schönen Sprache darin, die keine Umgangssprache ist, nicht mächtig sein werden, solange der Deutschunterricht versucht, das Können auf ein Minimum zu beschränken.

Man kann nicht voraussetzen, daß Internet und „Social Media“ alles sind, womit Kinder und Jugendliche unserer Zeit sich beschäftigen möchten. Aber man kann sicher sein, daß sie es werden, wenn niemand sie mit etwas anderem bekanntmacht. Die Welt und die Menschenleben ihrer Geschichte haben mehr zu bieten.

„Unsere Sprache ist auch unsere Geschichte.“
Das schrieb Jacob Grimm (1785-1863). Ich glaube, in diesem kleinen Satz hat der Kummer meines gesamten Briefes Platz. So auch in diesem, den er ebenfalls schrieb: „Es ist die Weide des Geistes wohl zu wählen für die Kinder.“

Dies nun schrieb Friedrich der Große in einem Brief im Jahr 1737, da war er 25 Jahre alt:
„Übrigens leben wir so kurze Zeit und haben meistenteils so ein schwaches Gedächtnis, daß wir uns nur in den auserlesensten Dingen unterrichten dürfen.“

Warum kann so was nicht als Plakat in jeder Schule kleben?
Sollten man den Kindern von heute nicht zutrauen, aus erlebten Worten wie diesen etwas für ihr eigenes Leben schöpfen zu können?

In diesem Land weiß man wahrlich nicht, wohin sich zu wenden und hat das Gefühl, man kann nur hilflos seinem (selbstverschuldeten ) Untergang zusehen. Wenn es so weitergeht, werden auch wir bald einen Bundeskanzler wie Donald Trump haben, denn er ist die Personifizierung des Gegenteils von Bildung, und auch er beherrscht seine Muttersprache nicht.
So fängt es an.

Mit freundlichem Gruß, hoffend, wünschend, aber nicht vertrauend,
eine besorgte Tante.


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