Sergio Leone: Spiel mir das Lied von Amerika

Ostfriese, Sonntag, 06.01.2019, 19:45 (vor 1934 Tagen)5332 Views

Hallo ins Forum

In der Vorbesprechung zu der Dokumentation

https://www.arte.tv/de/videos/070794-000-A/sergio-leone-spiel-mir-das-lied-von-amerika/ ,

die nur bis zum 11. Januar 2019 zur Verfügung steht, ist zu lesen:

"… Sie zeichnet den Werdegang Sergio Leones anhand der drei großen Themen seines Lebens nach: Filme, Freundschaft und Familie. Der Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin wuchs zu Zeiten des Faschismus auf. Er widmete sein Leben dem Kino, war Italiens jüngster Regieassistent und wirkte an über 50 Filmen mit. Als der klassische US-Western in den 60er Jahren aus der Mode geriet, erfand Leone den Italowestern; eine ästhetische Revolution, nicht zuletzt durch den Einsatz der Musik. Sie verleiht den Filmen etwas Opernhaftes. Das neue Genre machte den unbekannten Schauspieler Clint Eastwood zum Star und Leone zum Milliardär. Mit nur sieben eigenen Regiearbeiten schuf Sergio Leone ein international überaus erfolgreiches Lebenswerk, das bis heute Regisseure auf der ganzen Welt beeinflusst. Anhand von Archivmaterial und neuen Aufnahmen von Orten seiner Kindheit in Rom sowie von den andalusischen Landschaften, in denen Leone seine persönliche Sicht des Wilden Westens inszenierte, zeichnet die Dokumentation die Entwicklung seines filmischen Schaffens von der berühmten Dollar-Trilogie bis zur Amerika-Trilogie nach. Unveröffentlichte Tonaufnahmen und die Erzählungen von Wegbegleitern lassen Stück für Stück die Persönlichkeit des Regisseurs sichtbar werden. Zu Wort kommen auch Freunde Leones wie der italienische Regisseur Luca Verdone und der französische Biograph Noël Simsolo, sein Stammkomponist Ennio Morricone, der Drehbuchautor Luciano Vincenzoni sowie zwei seiner Schauspielstars: Clint Eastwood und Claudia Cardinale"

In allen seinen Filmen geht es um die Ideen der Familie und der romantisierenden Freundschaft – der Männerfreundschaft –, wie der Dokumentation zu entnehmen ist.

Clint Eastwood (24:00 – 25:00): "Der Film handelt vom Zynismus und Materialismus der 60-er Jahre, vom natürlichen Materialismus des Lebens. Der Mensch denkt nur an sein eigenes Wohl, aber insgesamt wirken diese Typen doch auch sympathisch. Sie interessieren sich vor allem für sich selbst, während im klassischen Western der Held eher der Gute ist. Da gibt es Gutes und Böses und nichts dazwischen. Diese Typen sind ein bisschen gierig, aber das ist ganz normal."

Sergio Leone (27:40 – 28:10) "Es geht wie immer um die wahre Freundschaft zweier Männer, die man 'böse' nennt. Ich entmystifiziere diese beiden Adjektive. Die Freundschaft zwischen zwei Bösen ist viel stärker und interessanter als die zwischen zwei Guten."

Das sind genau Jean Baudrillards Gedanken, die ich versucht habe, in

http://www.dasgelbeforum.net/forum_entry.php?id=467729

vorzustellen.

Der Ausgangspunkt der Überlegungen Baudrillards zum Prinzip des Bösen – des Schlechten – ist das 'Theorem des verfemten Teils', das wohl auf Bataille zurückgeht. Darunter versteht er die Annahme der Unzertrennlichkeit von Gut und Böse. Die unversöhnlichen Gegensätze sind miteinander verkoppelt und aufeinander angewiesen. In 'Transparenz des Bösen' sagt er auf Seite 122: "Wer seinen verfemten Teil ausmerzt, besiegelt seinen eigenen Tod." Am Beispiel der berechtigten Menschenrechte als ein Ziel des Guten beschreibt er die Schwäche eines Diskurses, der voll und ganz auf einer Seite stattfindet. Anders formuliert: Die Menschenrechte sind für ihn illusorisch geworden, weil sich die Diskussionen nur auf der Seite des Guten entwickeln.

Baudrillard diskutiert intensiv in seinem späteren Werk das Verhältnis von Leben und – dem verfemten Teil – dem Tod. Seine Ideen zur Auffassung des Bösen erzeugen die Vorstellung eines Überganges, wie Bataille formuliert: "Sagen: 'Gott ist das Böse' bedeutet keineswegs das, was man sich vorstellt. Es ist eine zärtliche Wahrheit, etwas von der Freundschaft für den Tod, ein Gleiten ins Leere, in die Abwesenheit."

In den Worten von F. Blask:

"Baudrillard vertritt diese Position vehement. Seine Abneigung gegen die Kommunikation, gegen die Dialektik, gegen das Subjekt, Übersignifikation, Sinn und Wahrheit scheinen bisweilen an den Zustand der Paranoia zu grenzen. Seine Hinwendung zu Alternativen der Simulation wie dem symbolischen Tausch, der Verführung, dem Objekt oder dem Bösen und dem Anderen gerät vor diesem Hintergrund beinahe zur Apotheose."

Immer wieder die Besessenheit von Amerika – immer wieder Amerikas Geschichte. Sergio Leone ist fasziniert von dem Land, das für Jean Baudrillard bekanntlich ein Modell ist.

Der Film 'Spiel mir das Lied vom Tod' erzählt vom Aufkommen des Kapitalismus anhand des fortschreitenden Eisenbahnbaus. Er wirft einen melancholischen Blick auf das Ende der Welt jener Helden, die ihn in seiner zarten Kindheit zum Träumen brachten.

Sergio Leone: "Mit diesen fünf Symbolfiguren (Rächer, romantischer Bandit, reicher Unternehmer, krimineller Geschäftsmann, Hure) des amerikanischen Western erzähle ich die Geburt einer Nation mittels eines Totentanzes. Diese Figuren wissen so gut, dass sie das Ende des Films nicht erleben werden …, dass sie einander die ganze Zeit beobachten. Jeder Blick hat ein Gewicht und eine entscheidende Kraft. Es ist die Kraft des Lebens, des Überlebens. Die Langsamkeit des Films ist also kein Zufall."

Zum Vorwurf der Abwesenheit von Frauen, die ihm als Frauenfeindlichkeit ausgelegt wurde, sagt Claudia Cardinale: "Der Mann auf seinem Pferd taucht auf, und sie ist im Haus. Doch entscheidend ist ihre Kraft. Jill beginnt ein neues Leben. Sie ist eine Pionierin des Westens. Sie geht mit dem Wasser aus dem Haus. Lachend empfängt sie die Eisenbahnarbeiter. Es ist eine wunderbare Szene voller Hoffnung und Energie. Es ist die Frau, die für Hoffnung, Energie und Kraft steht."

Es ist bemerkenswert, wie die Fantasien des Kindesalters, das Leben des erwachsenen Leone inspirieren und bestimmen. Der Filmhistoriker sagt Noël Simsolo: "Eigentlich machte er Comics – fumetti – für die große Leinwand. Wenn Sergio einen Film erzählte, machte er das nicht wie ein Drehbuch oder Buchautor, sondern, wie ein Kind, das den Film gerade im Kino gesehen hatte. …Er sagte, du schreibst mein Drehbuch, erfülle mir meine Träume" – meine Kindheitsträume.

Sergio Leones Quintessenz: "Ich bin Pessimist, weil ich ein enttäuschter Sozialist bin. Ich bin sogar zum Anarchisten geworden. Ich glaube den Politikern kein Wort. Was bleibt sind die Familie, die ich mir erhalten habe, und die Freundschaft, die Männerfreundschaft."

Gruß â€“ Ostfriese


gesamter Thread:

RSS-Feed dieser Diskussion

Werbung