"Das Reale wird durch Zeichen des Realen ersetzt."

Silke, Sonntag, 06.01.2019, 09:48 (vor 1909 Tagen) @ Ostfriese5364 Views
bearbeitet von Silke, Sonntag, 06.01.2019, 10:46

Vielen Dank, lieber Ostfriese,

ich habe neulich wieder in "Reif werden zum Tod" von Elisabeth Kübler-Ross gelesen und war diesmal von ihrer Auffassung berührt, dass ich für diese Welt verantwortlich bin "Der Tod ist die letzte Stufe der Reife in diesem Leben".
Wenn ich also Überzeugungen habe, von denen ich mir verspreche, die Welt auch nur ein wenig besser machen zu können, dann muss ich sie genau so in die Welt tragen wie andere Menschen mit ihrem Sendungsbewusstsein auch.

Wenn sich da vieles wiederholt wie manche beklagen so bleibt das trotzdem notwendig.
Für mich wird es mit jedem geschriebenen Text klarer weil ich doch immer wieder auch noch einmal selbst zum Nachlesen gezwungen bin und für andere Menschen erhöhen sich die Chancen, an meine Denkinhalten anknüpfen zu können und ihre eigene Weltsicht zu erweitern, wenn sie sich halt nicht dauernd angegriffen fühlen würden.

die Unzufriedenheit und die Desorientierung sind allseits greifbar, wie
der Beitrag von
@Ulrich
Remmlinger
zeigt.

Das ist richtig, aber ich frage mich mittlerweile, ob das jemals anders war.
Eine "revolutionäre Situation sehe ich ja nun nicht gerade.

Ich möchte meine dortigen
Ausführungen,
die im DGF schon länger bekannt sind, an dieser Stelle ein letztes Mal
vollständig einbringen.

Das kann man aber nicht oft genug einbringen.

Roland Barthes hat in seinem Buch 'Die helle Kammer' im Zusammenhang mit
Betrachtungen über die Photographie und Malerei die Begriffe 'studium' und
vor allem 'punctum' und 'choc', deren Bedeutungen vor mehr als einem halben
Jahrhundert in meinem Kunstunterricht thematisiert wurden, eingeführt. Das
Werk von Marcel Duchamps wurde schon damals ausführlich besprochen.

– Barthel verdeutlicht den Begriff 'studium': "Wenn William Klein den
'1. Mai 1959 in Moskau' photographiert, zeigt er mir, wie die
Russen sich kleiden, … ich registriere die mächtige Mütze eines Jungen,
die Krawatte eines anderen, das Kopftuch der Alten, den Haarschnitt eines
Jugendlichen, und so weiter." Das Bild ist also eine reine
Zustandsbeschreibung.

Für solche Empfindungen brauche ich einen ganz persönlichen Zugang, eine geeignete Mustererkennung, eine Befähigung zum Mitschwingen wie auch in der Musik oder der Mathematik.
Wenn jemand hier z.B einen seiner musikalischen Favoriten verlinkt wie neulich das Schneiderlein ist die Befähigung zum Nachempfinden sehr von den Befindlichkeiten und Befähigungen, vom Vermögen und der aktuellen Verfassung des Gegenüber abhängig.
Das ist der Nachteil am Austausch über soziale Medien. Der größte Teil der Kommunikation wie Gestik, Mimik, Begleitumstände usw. wird nicht transportiert, obwohl wir als soziale Wesen so sehr darauf angewiesen sind um richtig zu interpretieren - darum wahrscheinlich auch die vielen Missverständnisse und die teils unnötige Aggressivität.

– Ein 'punctum' – ein 'choc' – befindet sich in dem Gemälde
'Holzsammler im Schnee' – eine in kalte Farben getauchte
Winterlandschaft von Vincent van Gogh. Wir sehen die Dynamik an ihren
Beinen, an ihren gesenkten Blicken auf den schneebedeckten Boden, die dort
Festigkeit für die Füße suchen und an dem angedeuteten Trichter, der
durch die waagerechte Linie in der Bildmitte und der angedeuteten schrägen
Geraden der Sträucher links unten und der Richtung der Reisigbündel oben
ansatzweise gebildet wird. Der Blick wird durch das 'chocartige' Auftreten
der untergehenden, letzte Wärme spendenden, Abendsonne als 'punctum' in
das Bild wieder zurückgeholt.

Ohne die rote Abendsonne wäre das Bild nur ein 'studium' von Holzsammlern
in einer Winterlandschaft. Sie ist ein plötzliches Ereignis, das "bedeutet
[auch]: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf
der Würfel. Das 'punctum' einer Photographie, das ist jenes Zufällige an
ihr, das mich 'besticht' (mich aber auch verwundet, trifft)." Das 'punctum'
verändert also die Deutung des Gemäldes – hin zu einem Meisterwerk.

Eine schöne Darstellung.
Wer sich aber gerade an einem Botticelli oder Vermeer ergötzt hat wird sich möglicherweise denken, "Na dem fehlt aber auch mehr als ein Ohr".
Böse Zungen behaupten ja, auch Picasso hat es nur für das Geld getan, was man ja nun bei dem ewig klammen und von seinem Bruder ausgehaltenen van Gogh eher nicht behaupten kann.

"Es ist ja ganz nett, wenn Sie so einen Artikel im Manager-Magazin
veröffentlichen durften, aber warum schwenken Chefredakteur,
Unternehmensleitungen und Wissenschaft nicht auf Ihre Linie ein?"

Die Finanzkrise ab 2007 mit ihren nachfolgenden Entwicklungen war in der
allgemeinen Wahrnehmung ein kollektiver ökonomischer 'choc'. In
Ermangelung eines individuellen intellektuellen 'punctums' konnten die
Chefredaktionen, Unternehmensleitungen und Wissenschaften ihre bisherigen
ökonomischen Deutungsversuche, die ja nur 'studien' waren, nicht
überzeugend revidieren – sie sind alle ihren überlieferten Paradigmen
verhaftet geblieben. Im Sinne des berühmten Zitates: "Würden die Menschen
das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen
früh." von Henry Ford wissen die Machthalter, dass neue Denkansätze ihnen
die Macht nehmen können.

Ganz genau. Aber auch Ohnmächtige ahnen und fühlen das.

Der 'choc' ist im Leben aller Menschen erst einmal etwas sehr Bedrohliches
und erzeugt Angst. Die Angst rührt vielleicht auch daher, dass wir im
Gefängnis der überkommenen Verschriftung und der Zeichen sitzen, dessen
Mauern wir meinen, nicht überwinden zu können.

Ein Gefängnis bietet aber auch Schutz, Struktur und Versorgung sowie stabile Beanspruchungen, wenn man sich einmal reingefunden hat. Am Ende fällt es den Insassen immer schwerer, außerhalb des Gefängnis zu leben.

Jeder simuliert sich die
Wirklichkeit mit den Worten seiner Texte zu seiner eigenen wahrgenommenen
individuellen und subjektiven Realität, deren Deutung sich psychologisch
nur nach einem selbst erlebten Riss – einem 'punctum' und 'choc' –
verändern lässt und nicht durch reines Räsonieren.

Das ist der Punkt, und das möchte ich auch am Gegenüber besser hinnehmen.
Jeder befindet sich an einer anderen Bushaltestelle an der man ihn abholen kann - aber eben nur genau an dieser wenn er noch nicht so weit, oder schon zu weit ist.

Es dauert
gegebenenfalls sehr lange, bis es 'Klick' macht, dessen Ausgangspunkt eben
immer individuell ist, für grundlegend neue Denkansätze – jeder hat
sich mithin selber zu mühen und zu finden.

Auch sehr wichtig. Wem die Welt nicht passt der kann sie für sich ändern.

Mit den nötigen Abänderungen gelten meine Ausführungen auch für die
Simulationsmoderne von Jean Baudrillard, den – in den Worten von
@Ashitaka – 'von den Fassungslosen' so verhasste.

Weder in seinem Heimatland Frankreich und erst recht nicht in Deutschland
findet Baudrillard eine durchgreifende Anerkennung, wie Samuel Strehle in
'Zur Aktualität von Jean Baudrillard' ausführt. Das ist vielleicht im
Hinblick auf meine obigen Betrachtungen auch verständlich.

Samuel
Strehle
schreibt auf S.26: "Mit Abstand die stärkste Resonanz ruft
Baudrillard im englischsprachigen Raum hervor, besonders in den USA und in
Kanada, aber auch in Großbritannien und Australien. Hier ist er als
bedeutender Vertreter der French Theory bzw. des Poststrukturalismus
neben Denkern wie Foucault, Derrida oder Deleuze weitgehend anerkannt und
etabliert."

Es ist natürlich verständlich, dass ein
International Journal
of Baudrillard Studies
nur dort erscheint und die Konferenz
'Applied
Baudrillard' Conference (Oxford, 2018)
erst recht nur in
Großbritannien stattfinden kann.

Baudrillard: "Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein
Modell."


"Immer wieder blitzen geniale Gedanken auf und man will am liebsten
schreien „Ja! Da bohr dich jetzt rein!“[[top]]

Warum muss Baudrillard da 'reinbohren'? Nein, @Phoenix5 muss selber
weiterdenken! Gemäß der Logik der Quantenmechanik ist nicht jeder nur ein
isolierter Teil des Ganzen, sondern jeder ist an der Schöpfung dieser Welt
als ein Gesamtkunstwerk beteiligt – jeder setzt sich auf’s Spiel. Es
geht um das 'Sich öffnen'. Wer wagt schon, sein bisheriges Denken zu
überwinden und sich für neue Deutungen zu öffnen. Wie @Ashitaka ja
hervorhebt, sind auch hier und drüben auf dem Reddit-Außenposten (und
auch bei Stelter) genug Denker unterwegs, die 'ungeöffnet' längst
woanders sind, alles in Frage stellen, was wir öffentlich immer noch als
unzureichende Vorstellung verteidigen.

"Falscher als falsch, das bleibt mir von Jean Baudrillard ewig im Ohr,
kann das Festhalten an einer Erkenntnis nicht sein. Unsere Hinterfragung
hingegen kann niemals falsch sein."

Baudrillard ging es zunehmend um die Überwindung der Orgien der
Kommunikation, der Dialektik, des Subjektes. Hin zu 'Illudere - Uns auf's
Spiel setzen lernen!' – gegen die
Entzauberung
des Lebens
:

"Das mag ich, dass erinnert mich an mich selbst, an meine Kinder, an die
Augenblicke meines Lebens, an die ich mich gerne zurück erinnere und die
ich gegenwärtig wieder in großen Zügen genießen darf."

Und nur darum geht es!

Eine sehr gelungene Darstellung.
Baudrillar wird wie auch Paul C.Martin in meinem ganzen sozialen Umfeld abgelehnt.
Also bin ich nicht sehr verwundert über @Phoenix5 seine Rezension (Rezession war ein Freudscher Versprecher).
Letztlich muss jeder für sich selbst suchen und finden.
Dabei können wir hier und in dependenten Foren (das DGF ist und bleibt imho. der Hort der Kernkompetenz) uns aber trotzdem mit unseren sehr unterschiedlichen Schätzen gegenseitig helfen

Ganz liebe Grüße
Silke


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