Roland Barthes: studium, choc und punctum

Ostfriese, Samstag, 05.01.2019, 16:25 (vor 1929 Tagen) @ Silke5759 Views

Liebe Silke,

die Unzufriedenheit und die Desorientierung sind allseits greifbar, wie der Beitrag von @Ulrich Remmlinger zeigt. Ich möchte meine dortigen Ausführungen, die im DGF schon länger bekannt sind, an dieser Stelle ein letztes Mal vollständig einbringen.

Roland Barthes hat in seinem Buch 'Die helle Kammer' im Zusammenhang mit Betrachtungen über die Photographie und Malerei die Begriffe 'studium' und vor allem 'punctum' und 'choc', deren Bedeutungen vor mehr als einem halben Jahrhundert in meinem Kunstunterricht thematisiert wurden, eingeführt. Das Werk von Marcel Duchamps wurde schon damals ausführlich besprochen.

– Barthel verdeutlicht den Begriff 'studium': "Wenn William Klein den '1. Mai 1959 in Moskau' photographiert, zeigt er mir, wie die Russen sich kleiden, … ich registriere die mächtige Mütze eines Jungen, die Krawatte eines anderen, das Kopftuch der Alten, den Haarschnitt eines Jugendlichen, und so weiter." Das Bild ist also eine reine Zustandsbeschreibung.

– Ein 'punctum' – ein 'choc' – befindet sich in dem Gemälde 'Holzsammler im Schnee' – eine in kalte Farben getauchte Winterlandschaft von Vincent van Gogh. Wir sehen die Dynamik an ihren Beinen, an ihren gesenkten Blicken auf den schneebedeckten Boden, die dort Festigkeit für die Füße suchen und an dem angedeuteten Trichter, der durch die waagerechte Linie in der Bildmitte und der angedeuteten schrägen Geraden der Sträucher links unten und der Richtung der Reisigbündel oben ansatzweise gebildet wird. Der Blick wird durch das 'chocartige' Auftreten der untergehenden, letzte Wärme spendenden, Abendsonne als 'punctum' in das Bild wieder zurückgeholt.

Ohne die rote Abendsonne wäre das Bild nur ein 'studium' von Holzsammlern in einer Winterlandschaft. Sie ist ein plötzliches Ereignis, das "bedeutet [auch]: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das 'punctum' einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich 'besticht' (mich aber auch verwundet, trifft)." Das 'punctum' verändert also die Deutung des Gemäldes – hin zu einem Meisterwerk.

"Es ist ja ganz nett, wenn Sie so einen Artikel im Manager-Magazin veröffentlichen durften, aber warum schwenken Chefredakteur, Unternehmensleitungen und Wissenschaft nicht auf Ihre Linie ein?"

Die Finanzkrise ab 2007 mit ihren nachfolgenden Entwicklungen war in der allgemeinen Wahrnehmung ein kollektiver ökonomischer 'choc'. In Ermangelung eines individuellen intellektuellen 'punctums' konnten die Chefredaktionen, Unternehmensleitungen und Wissenschaften ihre bisherigen ökonomischen Deutungsversuche, die ja nur 'studien' waren, nicht überzeugend revidieren – sie sind alle ihren überlieferten Paradigmen verhaftet geblieben. Im Sinne des berühmten Zitates: "Würden die Menschen das Geldsystem verstehen, hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh." von Henry Ford wissen die Machthalter, dass neue Denkansätze ihnen die Macht nehmen können.

Der 'choc' ist im Leben aller Menschen erst einmal etwas sehr Bedrohliches und erzeugt Angst. Die Angst rührt vielleicht auch daher, dass wir im Gefängnis der überkommenen Verschriftung und der Zeichen sitzen, dessen Mauern wir meinen, nicht überwinden zu können. Jeder simuliert sich die Wirklichkeit mit den Worten seiner Texte zu seiner eigenen wahrgenommenen individuellen und subjektiven Realität, deren Deutung sich psychologisch nur nach einem selbst erlebten Riss – einem 'punctum' und 'choc' – verändern lässt und nicht durch reines Räsonieren. Es dauert gegebenenfalls sehr lange, bis es 'Klick' macht, dessen Ausgangspunkt eben immer individuell ist, für grundlegend neue Denkansätze – jeder hat sich mithin selber zu mühen und zu finden.

Mit den nötigen Abänderungen gelten meine Ausführungen auch für die Simulationsmoderne von Jean Baudrillard, den – in den Worten von @Ashitaka – 'von den Fassungslosen' so verhasste.

Weder in seinem Heimatland Frankreich und erst recht nicht in Deutschland findet Baudrillard eine durchgreifende Anerkennung, wie Samuel Strehle in 'Zur Aktualität von Jean Baudrillard' ausführt. Das ist vielleicht im Hinblick auf meine obigen Betrachtungen auch verständlich.

Samuel Strehle schreibt auf S.26: "Mit Abstand die stärkste Resonanz ruft Baudrillard im englischsprachigen Raum hervor, besonders in den USA und in Kanada, aber auch in Großbritannien und Australien. Hier ist er als bedeutender Vertreter der French Theory bzw. des Poststrukturalismus neben Denkern wie Foucault, Derrida oder Deleuze weitgehend anerkannt und etabliert."

Es ist natürlich verständlich, dass ein International Journal of Baudrillard Studies nur dort erscheint und die Konferenz 'Applied Baudrillard' Conference (Oxford, 2018) erst recht nur in Großbritannien stattfinden kann.

Baudrillard: "Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein Modell."


"Immer wieder blitzen geniale Gedanken auf und man will am liebsten
schreien „Ja! Da bohr dich jetzt rein!“[[top]]

Warum muss Baudrillard da 'reinbohren'? Nein, @Phoenix5 muss selber weiterdenken! Gemäß der Logik der Quantenmechanik ist nicht jeder nur ein isolierter Teil des Ganzen, sondern jeder ist an der Schöpfung dieser Welt als ein Gesamtkunstwerk beteiligt – jeder setzt sich auf’s Spiel. Es geht um das 'Sich öffnen'. Wer wagt schon, sein bisheriges Denken zu überwinden und sich für neue Deutungen zu öffnen. Wie @Ashitaka ja hervorhebt, sind auch hier und drüben auf dem Reddit-Außenposten (und auch bei Stelter) genug Denker unterwegs, die 'ungeöffnet' längst woanders sind, alles in Frage stellen, was wir öffentlich immer noch als unzureichende Vorstellung verteidigen.

"Falscher als falsch, das bleibt mir von Jean Baudrillard ewig im Ohr, kann das Festhalten an einer Erkenntnis nicht sein. Unsere Hinterfragung hingegen kann niemals falsch sein."

Baudrillard ging es zunehmend um die Überwindung der Orgien der Kommunikation, der Dialektik, des Subjektes. Hin zu 'Illudere - Uns auf's Spiel setzen lernen!' – gegen die Entzauberung des Lebens:

"Das mag ich, dass erinnert mich an mich selbst, an meine Kinder, an die Augenblicke meines Lebens, an die ich mich gerne zurück erinnere und die ich gegenwärtig wieder in großen Zügen genießen darf."

Und nur darum geht es!

Gruß â€“ Ostfriese


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