Zu Mittwinter: vorweihnachtlicher Aufsatz

Gernot ⌂, Freitag, 21.12.2018, 03:57 (vor 1946 Tagen)6391 Views

Sehr geehrte Mitleser,

ich bin mir nicht sicher, ob mein vorweihnachtlicher Aufsatz in dieses Forum passt, glaube aber, schon öfter entsprechend Subjektives hier gelesen zu haben.
Da noch hier noch nichts mit weihnachtlichem Bezug veröffentlicht wurde, erlaube ich mir, diesen Aufsatz am Tage der Mittwinternacht hochzuladen. Wer ihn mag, kann ihn vielleicht bei einer Weihnachtsfeier vortragen; ich habe damit in entsprechenden Kreisen gute Erfahrungen gemacht.

Sollte er als unpassend empfunden werden, bin ich mit der Löschung durch die Verantwortlichen/Hausmeister einverstanden.

Mit den besten Wünschen zu Mittwinter, Weihnachten und die ab heute zählenden 12 Rauhnächte,
Gernot

Gedanken zur Vorweihnachtszeit
Prolog, nachgetragen Jahre später

In irgend einem Jahr Anfang - Mitte der 90er Jahre habe ich den nachstehenden Text spontan niedergeschrieben, und erst in der Adventszeit ("an der Wende.") dieses Jahres fiel mir mein damals in einem studentischen Mitteilungsblatt veröffentlichter Text wieder in die Hand.
Manches ist besser geworden seit damals, z.B. das, was (noch) nicht vom Menschen bestimmt werden kann: das Wetter. Wir haben die Aussicht auf Schnee. Voriges Jahr hatten wir sogar weiße Weihnachten. Manches jedoch ist schlechter geworden, z.B., durchaus von Menschen bestimmt, der Festschmuck, der immer weniger geeignet scheint, weihnachtliche Stimmung herbeizuführen.
Statt sanfter Lichter und dem Geruch nach Pfefferkuchen und Tannengrün erleben wir eine Invasion rot-weißer Pepsi-Weihnachtsmänner. In immer größerer Anzahl werden sie uns von den Medien, zu denen wohl auch die allgegenwärtige Werbung gehört, zu Symbolen des Weihnachtsfestes erhoben, obwohl sie es eigentlich nie waren.
War der Weihnachtsmann meiner Kindheit noch irgendwie grimmig, ziemlich alt, autoritär und dennoch voller Liebe und Großzügigkeit, blödet uns von unzähligen Plakaten das sinnentleerte Lächeln eines oftmals fliegenden Weihnachtsmannes mit völlig leerem, aussagefreien Pfannkuchengesicht an.
Doch ist dieses Lächeln nicht ganz leer. Mir scheint es das Durchhaltelächeln eines Propagandasubjekts zu sein, das im Auftrag einer gehaltlosen Ordnung der zur Religion erhobenen Oberflächlichkeit, Bedeutungslosigkeit und völligen Beliebigkeit von allem und jedem den "Verbrauchern" verkündet, der Endsieg ihrer erstrebten Glückseligkeit wäre nahe, würden sie nur weiterhin erwerben, was sie sollen, ohne es zu brauchen und zu wollen. Der Sieg in der Betäubungs- und Vernichtungsschlacht gegen den guten Geschmack, die eigenen Gefühle, Qualität von Produkten, die eigene wirtschaftliche Sicherheit und ein in verdächtiger Weise nicht überzogenes, nicht dispozinsenpflichtiges Konto scheint nahe: Macht nur alle mit, kauft, verbraucht, erwerbt immer Billigeres und Unbrauchbareres!
Das scheinen mir die Verheißungen des Paradieses zu sein, von dem der Pepsi-Weihnachtsmänner Lächeln kündet!

Eltern rennen mit ihren Kindern irgendwo hin, um ihnen einen übertrieben beleuchteten Lastwagen zu zeigen, der auch durch die Benennung "Truck" nicht aufregender und interessanter wird, geschweige denn, irgendetwas mit Weihnachten zu tun zu haben.
Aus Lautsprechern ertönen fast ausschließlich englischsprachige Lieder, fast immer mit allseits üblich gewordenem Beat-Rhythmus vom Weihnachtslied zum Popsong mutiert, oberflächlich, alltäglich, unauffällig und dennoch aufdringlich, im Gleichmaß des zeitgeistlichen Einheitsschrittes uns nicht erreichend, unsere Seelen nicht berührend, "Muzic", die die Sinne bedudelt statt sie zu öffnen:

Kauft - und wenn Ihr Schulden macht.

Konsum und Wirtschaft müssen leben, selbst wenn Deutschland sterben muss.

Den Gipfel der Geschmacklosigkeit nahm ich auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wahr: Auf eigentlich hübsch mit Lichterketten geschmückten Pfählen pfropfte wie abgeschlagen das von innen illuminierte Haupt eines Rot-Weißen mit eindeutigem Trinkergesicht.

Vor zwei oder drei Jahren erzählte mir ein Freund, der Weihnachtsmann wäre bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts stets grün gekleidet dargestellt worden, wobei das Grün naheliegenderweise für den Sinn des Festes gestanden hätte, der Hoffnung und Erwartung auf die Wiederkehr des Lebens mit der Wiederkehr des Lichts nach den Rauhnächten. Wohl in den 20-er Jahren schaffte es Coca-Cola, dem Weihnachtsmann aus Reklamegründen die rot-weißen Markenfarben anzuziehen. Diese Beeinflussung gelang so perfekt, dass Sinn und ursprüngliches Äußeres des Weihnachtsmannes gänzlich in Vergessenheit gerieten. Ich selbst glaubte die Geschichte zunächst nicht, fand sie aber mittlerweile vielfach bestätigt.

Doch nun zu meinem Aufsatz aus den 90-ern!

In der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember schreibe ich einen Brief; beim Schreiben des Datums werde ich mir der Zeit bewusst.
Ich durchwühle meine Kiste mit den Weihnachtssachen
(ein jeder hat wohl so eine "Jahresendartikelkiste").
Dabei stoße ich auf ein Gedicht von Hermann Claudius:

Licht muss wieder werden
nach diesen dunklen Tagen.
Lasst uns nicht fragen,
ob wir es sehen.
Es muss geschehen:
auferstehen ein neues Licht!

Und plötzlich ist sie da, unerwartet befällt sie mich, nicht künstlich hervorgerufen, sondern von innen kommend in der Stunde der Muße, und ich merke, dass ich noch lebe, wenn man noch Platz für solche Empfindungen in sich hat, dass man noch nicht ganz im Alltag aufgegangen ist, mechanistisch-funktionell: Die besondere Stimmung einer besonderen Zeit!
So beginne ich den Brief ganz anders, als ich es mir vorgenommen hatte:

"Es ist Adventszeit - und wieder ohne Aussicht auf Schnee. Was würde ich mich gerne warm einpacken und mit dick besohlten Schuhen die verschneiten Straßen und Wege entlang gehen, mit der Aussicht, irgendwo im Freien einen Glühwein in den behandschuhten Fingern zu halten, auf das knirschende Geräusch des festgetretenen Schnees beim Auftreten hörend und lauschend all den anderen Geräuschen, Kinderlachen und -stimmen, dem Schurren eines Schneeschiebers, den ein Hauswart führt, dem Krächzen der Krähen im Park, alles so seltsam gedämpft und sanft durch die weiße Schallschutzdämmung Schnee!
So aber können wir vorerst uns nur der bunten Lichter in den Fenstern und auf den Zweigen der Tannen erfreuen, die ja die lange, früh einsetzende und ruhige Nacht nicht verdrängen mit der Härte des Lichts, sondern erst begreifbar machen durch ihren sanft leuchtenden Kontrast. Denn nicht bedrohlich wirken die Dunkelheit, Stille und Nacht in dieser Zeit, sondern ruhig und ohne Hast, auf sich selbst führend und aus sich heraus die Umwelt mit anderen, aufmerksameren Augen sehend als sonst zu den hellen Tagen ohne Rast. Plötzlich finden wir uns, während abendlicher Wege zu Fuß, als Spaziergang oder vom Einkaufen nach Hause auch nur, Momente der Sinnlichkeit und Besinnung erlebend und jenseits von Kitsch und Tand eine Ahnung von Romantik, die die besondere Stimmung der Vorweihnachtszeit umfasst. Vielleicht reicht uns, erwachsen, unsere Kindheit die Hand, und wir nehmen sie, nicht einfältig, sondern reflektierend mit unserer Fähigkeit zum Empfinden als Erwachsene, uns unserer selbst bewusster geworden, an."

Epilog, nachgetragen weitere Jahre später

Deutsche Weihnacht, ja, ich wage es, diesen Begriff zu erwähnen, und wer mich deswegen vermeintlich standortbestimmend diffamiert, sagt etwas über sich aus, nicht über mich,
Deutsche Weihnacht, die gab und die gibt es, im Verborgenen, unter denen, die nicht alles mitmachen, die zu opponieren wagen, denen Liebe, Familie (welcher Art Lebensgemeinschaft auch immer), Treue, Gefühle, Tiefe, Freundschaft, Tiere, das Leben, die Natur, Geschenke, die von Herzen kommen, Lichter, Lieder und Liebe wichtiger sind als das Propagandageschrei einer möglicherweise zugrunde gehenden Lebens(un)art und Welteinheits-Un-Kultur.
Es ist die Weihnacht mit der Hoffnung auf Schnee oder dem Blick aus dem Fenster auf die leis´ fallenden Flocken, die der stillen, nicht kreischenden Kinder mit erwartungsvollen Augen, der Lieder, die wir sonst nicht hören und die uns erreichen, wo sie, die X-mas-Propagandisten, mit ihren Vorgaben scheitern und deshalb lieber verwirren: in den Tiefen unserer Seelen, in den warmen, eigenen, heimatlichen Gefilden unseres Gemüts.

Lassen wir sie uns nicht nehmen, niemals und von niemandem!

Es ist die Deutsche Weihnacht etwas Besonderes, verdächtig manchem darin, eben nicht beliebig und austauschbar gegenüber jedem anderen, beliebigen Konsumrausch-Festival zu sein. Die Besonderheit jedoch ist durchaus nicht ausschließlich deutsch. Auch andere Völker wissen oder wussten um das Besondere an diesem Fest, aber es ist Deutsche Weihnacht in unserem Inneren und für uns.

Es ist die Weihnacht der Zusammenkunft, der Freundlichkeit und Großzügigkeit, die sich nicht in unsinnigen Ausgaben und Geschenken manifestiert, die Pflichtübung geworden sind, sondern im Vergeben, im Öffnen der Herzen, im Wunsche nach und Gewähren von Frieden.
Deutsche Weihnacht ist die Weihnacht der Besinnlichkeit, der Ruhe, des Dunkelwerdens am Heiligabend, des Spaziergangs im Mantel, bei dem man durch die Fenster der anderen Wohnungen auf die Weihnachtsbäume blickt, des Staunens über die endlich einmal zur Ruhe gekommene, weihnachtliche, abendliche Stadt, die Zeit, zu der man Streit und Hader ruhen lässt und auf ihre geringere Bedeutung zurückführt angesichts der Bedeutung einer im Jahreslauf einmaligen und sinnbildlich jedwede Hoffnung wiederbelebenden Zeit: der Wiederkehr des Lichts.
Es ist die Zeit, in der man Arbeit und Alltagsgeschäfte ruhen lässt, dunkel erahnend, dass sie nicht alles sein können im Leben und wofür man lebt, in der man sich anderen Dingen widmet, Kraft schöpfend, Hoffnung und neuen Mut.
Es ist die Zeit, Dinge zu tun, die man sonst nie macht:
ein Brettspiel mit seinen Kindern zu spielen bis tief in die Nacht, einen Abendspaziergang, das Entzünden von Wunderkerzen, vielleicht auch einmal etwas Besonderes zu essen, endlich miteinander zu reden, Geschichten vorzulesen oder Gedichte aufzusagen, die eigenen Lieder zu singen oder zu musizieren, jemanden zu überraschen oder unerwartet Gutes zu tun, ohne eigenen Vorteil und Zweck.

In der deutschen Weihnacht finden wir zurück zu uns selbst, erleben eine Innenschau, wenden uns unserem eigentlichen Wesen zu, jenseits seiner Veränderung durch Erfordernisse und Zerstreuungen des Alltags, des Arbeits-, Kommerz- und Funktionslebens.
Hierin erfahren wir uns selbst und neu und werden uns unserer Gefühle, unserer Größe, Beschränktheit und eigentlichen Menschlichkeit gewahr.

Vor Jahren begab ich mich, unzufrieden mit den Weihnachtsfeiern, auf die Suche nach Sinn, Ursprüngen, Bedeutung und Mythos des Festes. Ich fand ein Lied, das wohl alles verdeutlicht, was ich mich auszusagen bemüht habe:

HOHE NACHT DER KLAREN STERNE

Hohe Nacht der klaren Sterne,
die wie weite Brücken steh´n
über einer tiefen Ferne,
drüber uns´re Herzen geh´n

Hohe Nacht mit großen Feuern,
die auf allen Bergen sind.
Heut muss sich die Erd´ erneuern
wie ein jung geboren´ Kind

Mütter, Euch sind alle Feuer,
alle Sterne aufgestellt,
Mütter, tief in Euren Herzen
schlägt das Herz der weiten Welt

An diesem Weihnachtsabend hörte es auch meine Mutter erstmals wieder seit Jahrzehnten, und Tränen standen in ihren Augen.
Später fragte ich meine Eltern, was sie sich haben nehmen lassen, was sie ihren Kindern haben nehmen lassen im Austausch für das fade Surrogat des heutigen weihnachtlichen Tands.

Heilig Abend letztes Jahr kaufte ich mit meiner Tochter vormittags in der Markthalle den Weihnachtskarpfen. Besorgt trugen wir ihn im zu kleinen Eimer fort, immer wieder Luft ins Wasser einrührend und beruhigend zu ihm sprechend. Und in das Eis des Fennsees hackten wir mühsam ein Loch und ließen ihn frei.

(Rechte bei Gilbert von Luck)


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