Bismarck und die Zünfte

ijoe, Dienstag, 02.10.2018, 20:11 (vor 2004 Tagen) @ Tempranillo1787 Views

Mit der Abschaffung der Zünfte (corporations) sind zugleich alle
innerhalb einer bestimmten Berufsgruppe über Jahrhunderte hinweg
aufgebauten Einrichtungen der sozialen Unterstützung weggefallen, wodurch
das infolge der englisch und liberalkapitalistisch inspirierten Revolution
angerichtete Elend weiter verschärft wurde.

Tatsächlich wäre ein Schuß englischer Wirtschaftsliberalismus dringend angebracht.
Zwischen 1870 und 1900 entwickelte sich Deutschland vom Agrarland zum Industriestaat. Voraussetzung dafür war die Einführung der Gewerbefreiheit. Die exemplarische Geschichte des Verschleißes von menschlichen Ressourcen durch die Zunftwirtschaft war der jahrelange Kampf des Sächsisch-Weimarischen Mechanikers und Optikers Carl Zeiss für die Zulassung seines Gewerbebetriebes. Die Etablierung seiner Firma im Jahr 1846 gelang ihm nicht zuletzt, weil er zufällig ein Patenkind des Weimarischen Großherzogs war.

In der gleichen vorrevolutionären Periode, am 17. Januar 1845 wurde die Allgemeine Gewerbeordnung mit Einführung der Gewerbefreiheit für ganz Preußen durchgesetzt. Für eine Reihe von Gewerben wurde allerdings ein staatliches Befähigungszeugnis vorgeschrieben. Dann prasselte die Revolution von 1848/49 dazwischen. Unsägliche an der romantischen Verklärung der Meistersängerzeit des Hans Sachs orientierte Handwerkeragitation setzte die Regierung unter Druck. Viele Handwerker sehnten sich nach den bequemen Regelungen der Zunftordnung zurück, nach der man einen festen Kundenstamm hatte und die Zahl der Meister limitiert war. Das Abspenstigmachen von Kunden war verboten. Um etwas Dampf aus dem revolutionären Kessel zu nehmen, erließ die preußische Regierung am 9. Februar 1849 eine Notverordnung mit Innungszwang für Bäcker, Fleischer, Müller, Weber, Bürstenbinder und Korbflechter. Die Meisterprüfung in diesen Gewerben wurde wieder eingeführt. Im folgenden Jahrzehnt lernten die Handwerker, daß die Zünfte gegen den Druck der industriellen Produzenten nichts nutzten. Die Begeisterung für die Wirtschaftsordnung des 16. Jahrhunderts flachte zeitweise ab. Bismarck nutzte seinen Erfolg in den Deutschen Kriegen 1864 bis 1866, und sein damit verbundenes hohes Ansehen, um die Liberalisierung der Wirtschaft wieder voranzubringen.

Mit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund aus dem Jahre 1869 war Schluß mit der Behinderung wirtschaftlicher Tätigkeit. Wikipedia behauptet fälschlicherweise, daß das Gesetz in seinen Grundzügen bis heute besteht. Dabei ist den Wikipedisten jedoch ein wesentlicher Lapsus unterlaufen. Seit 1881 wurden die freiheitlichen Impulse Stück für Stück unterdrückt, 1935 wurde die Gewerbefreiheit vom Führer A. Hitler endgültig stark eingeschränkt und diese Verwässerung besteht bis heute fort. Hitler führte den Großen Befähigungsnachweis wieder ein, nämlich das Meisterstück nebst Meisterbrief, welches Fürst Bismarck in die vormarktwirtschaftliche Mottenkiste verbannt hatte. Dem in der liberalen Sattelzeit aufgewachsenen Eisernen Kanzler hätten sich die Fußnägel gerollt, wenn er geahnt hätte, wie sein Gesetzeswerk von fanatisierten Sozialisten zerstört wurde.

Keine IHK, keine Handwerkskammern, keine obligaten Meisterprüfungen, keine teuren Meisterstücke, keine Konkurrenten, die mit Hilfe der Kooperationen ihre Kollegen denunzieren und quälen. Keine Kammerpräsidenten, die sich durch ihre Tätigeit persönliche Vorteile verschaffen. Keine Künstlersozialkasse, keine Knappschaft, keine unnützen Kosten, keine ausufernde Bürokratie. Noch heute ist in unserem Nachbarland Polen der Beitritt zu Kammern freiwillig. Auch in Ungarn, Tschechien und der Slowakei gibt es keinen Zwang. Reichskanzler Otto von Bismarck hat noch heute Fans und Nachahmer, aber leider nicht in Deutschland.

Die Zeit des frühen und mittleren Kaiserreiches, die Regierungsperiode des Otto von Bismarck von 1870 bis 1890 war für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands eine Schlüsselperiode. Das lag unter anderem darin begründet, daß für die Exportwirtschaft in diesem Zeitfenster günstige Bedingungen herrschten. Anfangs wurden deutsche Produkte im Ausland nicht für Ernst genommen, „Made in Germany“ hatte zunächst einen schlechten Ruf. Als die ausländische Konkurrenz aufwachte, hatte die deutsche Fertigung hinsichtlich Menge und Qualität bereits stark aufgeholt. Die Freiheit für industrielle Talente ließ insbesondere die Zahl der Betriebe des Maschinenbaus in die Höhe schnellen. 1861 waren in 665 Betrieben 35.562 Leute beschäftigt, im Jahr 1895 in bereits 4.367 Betrieben 130.859. Freie Bahn dem Tüchtigen war der Schlüssel zum wirtschaftlichen Aufschließen Deutschlands.

Weiterführende Literatur:
Martin Will: Selbstverwaltung der Wirtschaft. Mohr Siebeck, 2010
Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland, Franz Steiner Verlag 2004

ijoe


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