Ich brauche die Definition für formlose und formelle Gewalt

Silke, Mittwoch, 05.09.2018, 01:36 (vor 2053 Tagen) @ nemo2495 Views

Lieber nemo,

tausche in deinem Text das Wort "formlose" und das Wort "formelle" und ich stimme dir im Wesentlichen zu.

formlose Gewalt ist ein paradoxes Phänomen. Es beginnt damit, dass
Worte
für die Wirklichkeit gehalten werden.

Das können Worte jedoch niemals sein, weil sie immer nur eine
Beschreibung
der Wirklichkeit sind.

Die Wirklichkeit ist also viel umfassender und komplexer, als Worte es je
beschreiben
können und als der Verstand ermessen kann. Wenn nun Weltbilder und Normen

aufgestellt werden, dann geschieht das durch Verbalisierung. Der Punkt
ist, dass
verbale Informationen nie die Wirklichkeit darstellen und diese Tatsache
in Vergessenheit geraten ist.

Diese Ansicht vertrete ich auch. Und das findet sich auch in Baudrillards Werk wieder.
Nur das Wort formlos muss eben gegen formell getauscht werden, oder ich habe den Unterschied nicht richtig verstanden.

Worum geht es:
@Ashitaka hat uns korrekt den Bogen gespannt von der Vergangenheit in die Zukunft und damit @dottore seinen ganzen klugen Gedanken einen sehr wichtigen Aspekt hinzu gefügt.
Nutzt man die angebotene historische Betrachtungsweise der Entwicklung vom mesopotamischen "Kapital"ismus zum heutigen globalen Imperialismus mit seinen erschreckenden Parallelen wird klar, das letzterer aus ersterem erwachsen ist und das sich das zugrunde liegende System der Zentralmachtordnungen unter debitistischem Druck über all die Jahrtausenden gar nicht verändert hat.
Wir finden damals wie heute und im Prinzip in allen anderen gesellschaftlichen Konstrukten weltweit die gleichen Phänomene einschließlich Macht, Geld, Zins (census, diskont, usura und foenus), Steuer/Tribut, Krieg, öffentliche und private Verschuldung, eigentumsökonomische Elemente, machttheoretische Aspekte, alle Elemente der Debitismusbeschreibung u.v.m.
Das geht aber auch gar nicht anders, weil der heutige Kapitalismus eine Weiterentwicklung des damaligen von Sumer, Babylon u.a. ist. Er ist komplexer, widerstandsfähiger und ressourcen- und potentialhungriger geworden trotz der zwischenzeitlichen gewaltigen Zusammenbrüche.

Warum ist er gestartet?
Weil durch interne und externe Entsegmentarisierungsprozesse akephale segmentäre Gesellschaften sich unter dem nicht mehr beherrschbaren Existensdruck zu hierarchischen, systemisch gewalttätigen, patriarchaischen "Problem Solving, and Sustainable Societies" wandeln mussten, um gegen die Umwelteinflüsse und bei knappen Ressourcen gegeneinander zu überleben.
Wann immer diese Gesellschaften ein Problem gelöst hatten, haben sie damit mindestens zwei neue geschaffen und sind u.a. auch darum exponentiell gewachsen.

Durch die gewaltsame Schaffung von Abgabesystemen mit Redistribution konnten viele Menschen in vielen Generationen weiter überleben, allerdings zu einem sehr hohen Preis :
sich verschulden und unter immer größer werdenden Schuldendruck Nachschuldner stellen um zu den entsprechenden Terminen ihre Altschulden zu tilgen und das alles in einem System, das Abgabeforderungen erhob und bis heute erhebt und mit Waffengewalt durchsetzt um selbst zu expandieren und sich auszudifferenzieren und dabei in jedem Moment seiner Existenz immer größere Finanzierungslücken hinterlässt, die gehändelt werden mussten wie auch die ständige Bedienbarhaltung der ganzen Altschulden um nicht in einem Systembankrott unterzugehen.

Vor dem Umbruch bestimmte formlose Gewalt das Bild bei den nicht so häufigen aber üblichen Eskalationen. Wer sich in die Wolle bekam (Einzelne, Dörfer, Lineages, Clans) der gab sich auf die Mütze bis der Stärkere gewonnen hatte und dem Schwächeren diktierte wie es weiter ging (nach Uwe Wesel hauptsächlich Wiedergutmachung).

Nach dem Umbruch setzte sich fortan ständig präsente formelle Gewalt durch den Recht setzenden Zwingherrn samt Gefolgschaft und Erzwingungsstab gegen die Unterworfenen, bzw. Ohnmächtigen durch. Jeder Rechtsbruch wurde schwer geahndet (dies gemacht->tot, das angestellt->tot, jenes getan->tot). Es wurde sehr häufig mit der Todesstrafe und anderen drakonischen Strafen operiert, siehe Codex Hammurapi (nach Uwe Wesel ging es nun nicht mehr um Wiedergutmachung sondern um Abschreckung und Machterhalt).

Dieses System kommt nach debitistischer Betrachtungsweise irgendwann in den nächsten Jahren, Jahrzehnten an sein Ende, wenn die globale Nachschuldnersuche abreißt, die Aufschuldungsfähigkeit dank Besicherung per Besteuerung nicht mehr gelingt, die Vorfinanzierungslücken unüberbrückbar werden oder das Vertrauen in das System versiegt.
In den dann einsetzenden Bürger- und Angriffskriegen wird die formelle systemische Gewalt wieder in formlose Gewalt (jeder gegen jeden, der Stärkste gewinnt, der Schwache ist recht- und schutzlos) umschlagen, die bei der bestehenden Komplexität und dem vorhandenen Vernichtungspotential das von allen drei monotheistischen Religionen herbei gesehnte Armageddon auslösen wird.
Warum die Menschen das damals und schon immer wussten hat möglicherweise etwas mit dem vom @Ostfriesen ins Spiel gebrachten Phasenraum und der völlig anderen Sichtweise auf Raum und Zeit zu tun.

Liebe Grüße
Silke

PS. Es gibt jedoch auch Weltbilder und Normen, die nicht der
Verbalisierung
entspringen, sondern auf Erfahrung und Beobachtung beruhen. Die Sprache
ist dann der Versuch einer Annäherung an diese Wirklichkeit. Sie kann sie

jedoch niemals ersetzen. In dem Moment, in dem Sprache zur Wirklichkeit
wird, haben wir die wesentlichen Dinge missachtet und schaffen eine
Scheinwirklichkeit, die zur Gesetzmäßigkeit und damit zu Gewalt wird.
Heute nennt man es Deutungshoheit.

Auch das sehe ich im Prinzip wie du.[[top]]
Ich behaupte aber weiter:
Wir haben nichts missachtet.
Wir hatten systemisch nie eine andere Wahl.
Das debitistische Weltverständnis stand meines Wissens vor den 80-igern noch nicht zur Verfügung.
Ich habe immer nur eine persönliche Wahl für mein Leben, die auf die Systementwicklung nur einen kleinen Einfluss hat wie 7 Mrd. andere Einflüsse auch von denen ständig viele kommen und vergehen.


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