Literaturkritik auf offener Bühne

Tempranillo, Donnerstag, 12.07.2018, 18:25 (vor 2114 Tagen) @ Tempranillo1853 Views

Literaturkritik auf offener Bühne:

Jean Baptiste Molière: Der Misanthrop (1666)

Alceste:
Nun – bergen Sie's im stillen Winkel nur!
Nach schlechten Mustern hat es sich gerichtet,
Und jedes Wort darin ist Unnatur.
Was für ein Bild: »Auf Stunden zu verscheuchen«,
Und darauf reimt sich: »Muß sie nicht entfleuchen«!
Und dann erst dieses »Dein Gefühl verstecken«
Und ein so plumper Ausdruck wie »bezwecken«,
Und endlich gar: »Die Hoffnung geht in Scherben,
Wenn man nur hofft und weiter nichts.«
All dieser gleißend aufgeputzte Kram
Trägt nicht der Wahrheit redlich offne Züge,
Ist nur Getändel und gespreizte Lüge,
Die nie den Sprachklang der Natur vernahm.
Ich wünsche statt so falscher Poesie
Die Derbheit unsrer Väter mir zurück,
Und höher als ein heutig Meisterstück
Stell' ich ein altes Volkslied; hören Sie!

»Und gäbe der König Heinrich mir
Seine große Stadt Paris
Und wollte haben, daß ich dafür
Meine Herzallerliebste verließ',
Ich spräche: König Heinerich,
Behalte dein Paris für dich,
Und ich, juche, behalte fein
Die Herzallerliebste mein.«

Der Reim ist kunstlos und die Sprache schlicht;
Doch fühlen Sie nicht selbst, daß solche Klänge
Mehr wert sind als geschraubtes Wortgepränge,
Weil hier ein ehrliches Empfinden spricht?

http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-misanthrop-1924/2

Von dort aus führt ein sehr gerader Weg zu Louis-Ferdinand Céline.

Tempranillo

--
*Die Demokratie bildet die spanische Wand, hinter der sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr finden sie das beste Verteidigungsmittel gegen eine etwaige Empörung des Volkes*, (Francis Delaisi).


gesamter Thread:

RSS-Feed dieser Diskussion

Werbung