abgestorbene Seelen, psychische Wracks, die Schönheit des Kosmos

Weiner, Donnerstag, 26.04.2018, 23:51 (vor 2189 Tagen) @ nereus2944 Views

Hallo Nereus!

Du schreibst: Für mich sind gewisse Teile gewisser Weltreligionen die
schlimmsten Lügengebäude, seit 'Menschen' auf diesem Planeten umherlaufen
und mit Verstand die Welt betrachten.

Hast Du das Wort "gewisse" bewußt eingebaut, um Dir ggf. einen
geräuschlosen Rückzug zu ermöglichen oder ist das nur ein Füllwort?

Ein Aufhänger für Nachhaker!

Wenn manche Leute von Kanzeln aus Fegefeuer an die Kirchenwände malen, dann ist das für mich eine Verschwörung gegen den Menschen - und wenn andere von 72 Jungfrauen im Paradies predigen, gilt dasselbe. Die meisten Religionen haben entsprechende Verschwörungen in ihrem Angebot, manche mehr, manche weniger. Perfektioniert ist das alles bei den drei Monotheismen, die bekanntlich alle aus einer Wurzel stammen. Selbst der am Anfang sehr aufs Praktische angelegte Buddhismus hat sich im Lauf der Jahrhunderte ziemlich verbogen und verschworen. Und möglicherweise ist der farbenprächtige und vielfältige Hinduismus in dieser Hinsicht besonders grausam, insofern er Menschen nicht nur in ihrem gegenwärtigen Leben in die Kastenkiste zwingt sondern ihn auch für viele künftige Leben mit dem Stigma des Sisyphus beschwert.

Es gibt aber in allen Religionen gleichermaßen einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die dieses Treiben durchschauen, dennoch in 'ihrer Religion' bleiben und ständig an dem arbeiten, was die Hauptaufgabe religiösen Bemühens sein sollte: den Menschen nicht zu versklaven sondern ihm alle seine Entwicklungsmöglichkeiten, auch die verborgenen, zu zeigen - und in Freiheit ihn entscheiden zu lassen, welche davon er verwirklichen will. Denn nur dann wird's was, wenn wir ganz (=frei) bei einer Sache sind.

Ich hatte immer gedacht, der Begriff Seele hat etwas Metaphysisches, was
nun gerade bei Religionen eine wesentliche Rolle spielt.
Nun sprichst Du jedoch von einer abgestorbenen Seele und da fällt mir
zuerst einmal der Materialismus ein - der Gott leugnet - und somit auch mit
Seele wenig anfangen kann.

Es ist nicht möglich, in einem Forumsbeitrag sich substantiell mit dem Materialismus als Weltanschauung auseinanderzusetzen. Offensichtlich können Materialisten Psychologie betreiben, an der Hochschule oder in ihrer Praxis, und somit ist die Seele eine (zumindest methodische) Basiskonzeption bzw. -konstruktion auch für "Materialisten". Deswegen würde ich den Begriff der 'Seele' (als etwas Immaterielles) ungern gegen 'das Materielle' ausspielen wollen. Beide sind identisch bzw. zwei Seiten ein und derselben Sache (siehe weiter unten mehr).

Was ich als "abgestorbene Seelen" bezeichnete oder was Wolfgang Eggert in dem von @Albert dankenswerterweise ergänzten Aufsatz als "psychische Wracks" beschreibt, ist ein deformierter Zustand von Menschsein, den man allein mit gesundem Menschenverstand erkennen kann - dazu braucht man keine tiefenpsychologische, theologische oder philosophische Ausbildung. In einem meiner anfänglichen Beitragen auf dem Forum hier habe ich die Beschreibung Brehms vom Hausschaf und vom Wildschaf zitiert, die sich 1:1 auf den Menschen übertragen lässt.

Vielleicht ist es ihn vielen Fällen nicht korrekt, von einer "abgestorbenen Seele" zu reden, vielleicht müsste man stattdessen manchmal formulieren: eine Seele, die niemals (während Kindheit und Jugend) ausreifen und sich entwickeln konnte. Wiederum könnte man hier aber auch einwerfen: selbst eine verkümmerte Seele bleibt eine Seele (und hält ihre Potentiale und ihr Wesen bis zum Augenblick des Todes bereit?).

Womit wir bei den Ursachen- und Wirkgeflechten wären: es handelt sich hier um übergeordnete geschichtliche Prozesse, die über sehr viele Generationen hinweg sich erstrecken und mit immer wieder erneuerten Unterwerfungen von Individuen sowie mit Machtmißbräuchen zu tun haben (und im Lauf der Zeit zu einer 'genetischen' Selektion führen). Die Verkümmerungsvorgänge erstrecken sich also über Kinder und Kindeskinder hinweg. Ich würde so weit gehen, das als einen Zuchtprozess anzusehen, wobei sowohl Züchter wie Gezüchtete Menschen sind.

Das Gesamtsystem aus den beiden Gruppen ist aber autopoietisch: wenn wir es mit dem Bild eines Schwarmes ausdrücken wollten, dann wäre es ein Schwarm, in dem es Unterwerfer und Unterworfene gibt, Führer und Geführte, Vorausflieger und Hinterherflieger; geschätztes Verhältnis 1:100. Die Grenzlinien zwischen beiden Gruppen sind offen. Das System ist eben nur dann als Schwarm insgesamt stabil, über mehrere Jahrhunderte hinweg, wenn diese Aufteilung permanent aufrecht erhalten wird.

Ebenfalls in einem meiner ersten Beiträge habe ich hierfür einen Vergleich zu den Bienen gezogen, bei denen es solitär lebende gibt, sodann kleine Wildbienengruppen (mit etwa einem Dutzend Mutterindividuen) und dann eben auch große Schwärme. Je größer die Völker, desto differenzierter kann die Arbeitsteilung sein, die Kastenbildung, die Deformation der Individuen (bei Termiten/Ameisen noch weit mehr als bei Bienen). Eine Arbeiterbiene geht eben nicht mehr auf den Hochzeitsflug, ihre körperlich-seelische Entfaltung ist insofern deutlich eingeschränkt. Bisweilen entwickelt die Arbeiterbiene stattdessen Verhaltensweisen, die eine solitäre Wildbiene niemals zeigen würde (zb. gieriges Futtersuchen und -eintragen, absolut workaholic, bis hin zum kompletten körperlichen Abbau, etwa zerfranste Flügel, abgebrochene Beine, Erschöpfung und Tod, der hier fast wie ein 'Opfer für das Volk' erscheint).

Man könnte Argumente beibringen, dass die scheinbar deformierte Einzelbiene dennoch irgendwie "Anteil am Ganzen hat" bzw. an diesem Ganzen irgendwie profitiert, quasi in ihm aufgehoben, vielleicht sogar von ihm stimuliert wird. Wer sich in diese Thematik einlesen will, dem empfehle ich

Die Intelligenz der Bienen: Wie sie denken, planen, fühlen - und was wir daraus lernen können (von Randolf Menzel und Matthias Eckoldt).

Bienendemokratie: Wie Bienen kollektiv entscheiden - und was wir davon lernen können (von Thomas D. Seeley und Sebastian Vogel).

Am meisten erwarte ich in dieser Hinsicht von Lars Chittka, der gerade an einen Buch mit dem projektierten Titel "Der Geist der Bienen" arbeitet. Die genannten Titel zeigen, dass selbst hier in der deskriptiven materialistischen Biologie der gewohnte begriffliche Rahmen überschritten werden muss, wenn man Naturvorgänge adäquat abbilden und erkennen will.

Im Grunde handelt es sich in diesen und in vergleichbaren Fällen um transzendente Prozesse, die danach streben, negentropische Zustände (zum Teil extrem hoher Ordnung) in einer der Entropie (= dem Chaos und dem Sterben) unterworfenen Umgebung über längere Zeit hinweg aufrecht zu erhalten und fortlaufend auszubauen (durch Ausnutzung von lokal vorhandenen Energiedifferenzen).

Die dabei entstehenden lebendigen Ordnungsstrukturen, ob es sich um ein Hochkultursystem beim Menschen oder um das Ökosystem des Regenwaldes handelt, sind von einer magischen Schönheit, die einerseits völlig entrückt ist. Andererseits benötigen diese Ordnungsstrukturen aber offenbar 'das Materielle', um sich überhaupt darstellen und ausfalten zu können.

Das Universum ist demnach eine Orgel, die sich selbst erbaut hat, sich selbst spielt - und ihre Klänge selbst hört, Dissonanzen eingeschlossen.

MfG, Weiner


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