Neid ist kein guter Ratgeber

Tempranillo, Donnerstag, 12.04.2018, 10:47 (vor 2178 Tagen) @ neptun3250 Views
bearbeitet von unbekannt, Donnerstag, 12.04.2018, 11:39

Grüß Dich, neptun,

Auch wenn Sato sehr schön spielt bei anderer Auffassung über die Tempi
als die beiden Letztgenannten, so gefallen mir diese doch irgendwie besser,
weil sie mehr Ruhe ausstrahlen (bei nahezu gleicher zeitlicher Länge).

Sehe d.h. höre ich ganz genauso. Mir ging's in dem Fall nur um die Möglichkeit, den Text mitzulesen, womit man erst Schumanns Absichten und Inspiration nachvollziehen kann.

Vielleicht kennst Du ja von demselben Stück
diese Aufnahme mit
Lang Lang
noch nicht; der nimmt sich über 30 Sekunden mehr Zeit
für das Ganze, und ich finde, das hat eine Menge für sich. Auch wenn
dieser Pianist durchaus auch in Fachkreisen hie und da recht umstritten ist
(besonders wenn der den "Türkischen Marsch" von Mozart so ganz unmöglich
dem dennoch begeisterten Publikum [weshalb muß ich da eigentlich
plötzlich an das Bankenzinsluder denken? <img src=" />] "hinrotzt"), so halte ich
ihn dennoch für einen begnadeten und schon lange sehr ausgereiften
Pianisten.

Die Aufnahme mit Lang Lang kannte ich noch nicht. Ich stelle wieder fest, daß bei Schumann der Interpretationsspielraum, etwa die Wahl der Tempi betreffend, deutlich größer ist als bei Mozart und Beethoven. Mit Kritik an Interpreten möchte ich mich lieber zurückhalten und die Aufmerksamkeit stattdessen auf Schumann und die großen europäischen Künstler lenken.

Schumann ist, das solltest Du vllt. wissen, eher "nicht so mein Ding": Ich
halte ihn zwar für einen großen Meister der Miniatur, aber "die große
Form" beherrscht er meines Erachtens nicht wirklich.

Noch mehr als gegenüber Interpreten dosiere ich meine Kritik gegenüber Komponisten, Schriftstellern, Malern, Bildhauern und Architekten.

Meine Meinung wäre *Feuer frei, Kritik aus allen Rohren und Kanonen, was Angloamerika, Demokraten, Politiker und Eliten betrifft, aber bitte Schonung und Wohlwollen für das geschundene Europa*.

Schlimmstenfalls hindere ich mit abschätzigen Bemerkungen jemanden daran, sich mit Schumann oder welchem Komponisten auch immer zu beschäftigen. Ich meine auch, man sollte vorsichtig sein, durch eigene Urteile die Rezeption von Lesern, die mit dem Thema nicht so gut vertraut sind, in eine bestimmte Richtung zu lenken.

Wenn Du Dich darüber verbreitest, was man Schumann vorhalten kann, riskierst Du, daß jemand aufgrund Deiner Kompetenz als Pianist Deine Bewertung übernimmt und Schumanns Klavierkonzert oder seine Sinfonien mit dieser vorgefaßten Meinung hört.

Ich will ja gerade etwas völlig anderes erreichen, das einzige, wo ich wirklich eine bestimmte Absicht, ein Anliegen verfolge:

Ich möchte, daß sich die Leute mit Europas Geschichte und Kultur beschäftigen, endlich anfangen, sich zu informieren, zu lesen und die Werke der großen Komponisten zu hören.

Ich will sie nicht abschrecken oder ihnen eine Werthaltung nahelegen, sondern sie motivieren, möglichst unvoreingenommen an die Sache heranzugehen und sich ein eigenes Urteil zu bilden.

Wenn sie hinterher sagen *mein Gott so ein langweiliges und überspanntes Zeug wie der Krempel Schumanns, das kann man ja nicht aushalten*, würde ich das ohne Probleme akzeptieren, vorausgesetzt, sie machen sich die Mühe, ihr Urteil zu begründen.

Mit Werken wie dem
berühmten Carneval, den Davidsbündlertänzen oder der Kreisleriana konnte
er bei mir bisher nicht punkten, es kam bei mir früher oder später immer
der Punkt, wo ich für mich gähnend feststellte "Ach, jetzt fällt ihm
nichts mehr ein, und er bläst sich einfach nur noch auf". Seine
Kinderszenen hingegen sind mehr als Gold wert. :-)

Deine Vorbehalte kann ich nicht so ohne weiteres teilen. Mindestens das Klavierkonzert und die 4. Sinfonie wären aus meiner Sicht Ausnahmen.

Aber wie gesagt, mir ist jedes, selbst das abfälligste Urteil im Stil Glenn Goulds hundertmal lieber als die allgemeine viehische Ignoranz.

Ich bin ohnhin ein großer Freund sachlicher Provokation und habe mich noch nie an dem gestört, was Glenn Gould über Mozart und Beethoven gesagt hat oder an Pierre Boulez' Bemerkung über Opernhäuser.

Bezüglich des Impromptus habe ich vor einiger Zeit mit einer Kollegin aus
einer weit entfernten Stadt kommuniziert, welche die Aufnahme mit Krystian
Zimerman favorisiert. Meine Version hingegen fand sie nicht überzeugend,
ohne mir für mich nachvollziehbar vermitteln zu können, warum.

Die Zimerman-Aufnahme kannte ich aber schon und hatte sie vor längerer
Zeit (bei allem Respekt und in aller Bescheidenheit) zusammen mit anderen
Aufnahmen von weiteren fünf namhaften Pianisten (darunter sogar die von
mir sehr verehrten "Kollegen" Horowitz und Sokolov) als "nicht schön
genug" verworfen. Auch bei Sokolov vermisse ich hierbei sein sonst so
unnachahmliches Legato.

Vielleicht interessiert's Dich
ja.

Neid ist kein guter Ratgeber, das solltest Du doch wissen, lieber Neptun! Ich wäre froh, könnte ich Klavierspielen wie Du. Hätte ich Deine Fähigkeiten, würde ich vielleicht das Tempo etwas zügiger nehmen und Schubert weniger sub specie Brahmsi betrachten, denn als Nachfolger der Klassiker und Sohn der Wiener Vorstadt.

Mir wär's lieber, Du hättest mich gefragt, ob nicht vielleicht der Flügel wieder mal Besuch vom Klavierstimmer bräuchte?

Ist Dir eigentlich aufgefallen, daß in der Notenfassung der Aufnahme mit
Sato anders als von Dir wiedergegeben, der 12. Vers ("Mein guter Geist,
mein bessres Ich!") am Schluß, nachdem die ersten vier Verse wiederholt
wurden, noch einmal angehängt wird?

Ist mir leider nicht aufgefallen.

Tempranillo

--
*Die Demokratie bildet die spanische Wand, hinter der sie ihre Ausbeutungsmethode verbergen, und in ihr finden sie das beste Verteidigungsmittel gegen eine etwaige Empörung des Volkes*, (Francis Delaisi).


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