Nicht Hingerl war der Lügner

Taurec ⌂, München, Dienstag, 20.03.2018, 08:02 (vor 2201 Tagen) @ BBouvier3828 Views
bearbeitet von unbekannt, Dienstag, 20.03.2018, 08:12

Hallo!

1920 verfaßt worden und wurde dann von Hingerl lügnerisch
auf 1850 rückdatiert

Nein, nicht Martin Hingerl hat gelogen. Der wollte offenbar nur ein Gedicht zu Deutschlands Gegenwart mit prophetischem Ausblick in die Zukunft auf Grundlage bekannter Prophezeiungen verfassen.

Der Lügner ist Conrad Adlmaier, der das Lied 1949 erneut veröffentlichte und sich eine nicht nachvollziehbare Geschichte über den Fund in einem Baum im Jahre 1850 (pauschal 100 Jahre zurück) ausdachte, um:
1. Martin Hingerl nicht als Quelle nennen zu müssen und es selbst vermarkten zu können.
2. dem Lied einen mystischen Hintergrund zu verleihen, der zu seinem sensationsheischenden Geschäftsmodell bezüglich Prophezeiungen paßt. Entsprechend veröffentlichte er das Lied 1950 zusammen mit seinen Pseudo-Irlmaieraussagen und Mühlhiaslaussagen, die vor ihm ebenfall noch nie jemand gekannt hat.

Seine Lüge hat er erweitert durch das Märchen, das Lied habe sich über Generationen im Besitz einer namentlich nicht genannten Passauer Familie befunden, so daß seine Geschichte auch nicht zurückverfolgt, sondern nur geglaubt werden kann. Adlmaier: „Dieses Gedicht wurde uns von befreundeter Seite zur Verfügung gestellt mit dem Bemerken, daß es sich seit über hundert Jahren im Besitz einer Passauer Familie befand.“ Er hatte also noch nicht mal selbst Kontakt zu seiner vermeintlichen Quelle und konstruiert einen dem Leser nicht nachvollziehbaren Überlieferungsweg.

Adlmaier hat das Lied zunächst in gekürzter Form (ohne die Nennung des Baumes) veröffentlicht. 1950 veröffentlichte er sämtliche Strophen mit dem Hinweis, er habe zwei Leserzuschriften aus Unterfranken erhalten, die „ihn davon überzeugt haben“, daß es sich bei dem Gedicht und das sogenannte Lied der Linde von Staffelstein handele. Als ober das nicht zuvor schon gewußt hätte!
Durch diese Hakenschläge vermeidet er natürlich, daß man ihm im Zweifelsfalle Betrug nachweisen könnte. Er kann sich auf den Punkt zurückziehen, daß ihm das Lied unvollständig aus unbekannter Quelle zugeschachert wurde.
Da eine anonyme Familie sich wohl kaum eine solche Geschichte ausdenken würde, um damit nicht den geringsten Gewinn zu machen, ist davon auszugehen, daß Adlmaier sowohl das Alter von 100 Jahren, als auch die Passauer Familie schlicht selbst erfunden hat und nicht seinerseits einem Betrüger aufsaß.

Eine der genannten Leserzuschriften zitiert er 1960: „Ich besitze diese Prophezeiung ebenfalls, und zwar seit dem Jahre 1926, wo sie mir von heute unbekannter Hand zuging, doch hat die meinige eine wesentlich vollkommenere Fassung, das heißt, in der Hauptsache hat sie den wortgetreuen Text, wie bei Ihnen auch, hat aber noch dazu einen sogenannten Vorgesang und geht am Schluß noch fünf Vierzeiler weiter und hat auch einen rechten Schluß. Der Titel meiner Prophetia lautet: ‚Der alten Linde Sang von der kommenden Zeit‘. Dabei ist die Linde gemeint, die am Hohlweg steht, der zum Staffelberg führt, genauer gesagt, am Friedhof der Stadt Staffelstein. Ich habe diese Linde aufgesucht und alles genauest bestätigt gefunden, nur die Staffelsteiner Bevölkerung wußte wenig oder nichts darüber, wie das ja häufig der Fall.“

Zweifelsohne hatte die Leserzuschrift zumindest Hingerls zweite Auflage von 1925 zur Hand und nennt auch den korrekten Titel dieser Schrift. Zudem muß der Zusender das Druckwerk noch 1950 vollständig besessen haben, da er einen kompletten Textvergleich anstellen und völlig korrekt feststellen konnte, Adlmaiers (in einzelnen Worten abgewandelte) Fassung habe in der Hauptsache den wortgetreuen Text.
Zu vermuten ist, daß die Zuschrift Adlmaier auch über den Erstveröffentlicher Hingerl in Kenntnis setzte, welches er aber unterschlagen haben müßte, um die Widerlegung seiner Geschichte zu einer Stütze zu verdrehen.

Daß die Staffelsteiner Bevölkerung nichts von der Prophezeiung wußte, wundert nicht, da überhaupt kein genealogischer Zusammenhang zu Ort und Baum besteht. Der in Freising ansäßige Hingerl hat aus der Ferne den Baum als mythischen Ankerpunkt seiner Dichtung auserkoren. Die Staffelsteiner wußten davon nichts.
Hingerl bewegte sich damit völlig auf dem Boden der deutschen Volkstradition. So führt Will-Erich Peuckert im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ zum Stichwort „Schicksalsbaum“ aus:
„An das Gedeihen bestimmter Bäume geknüpft, erscheint das Schicksal ebenso von Herrscherfamilien wie das politische eines Landes. Der Glaube wird sich daraus entwickelt haben, daß Schicksal und Gedeihen einer Familie mit dem eines ihr besonders eigenen Baumes verknüpft schien.“ Der Ursprung scheint dabei zunächst die Beziehung fürstlicher Familien zu Bäumen gewesen zu sein, wobei Peuckert Beispiele von Linden anführt, die verdorrten, wenn dem Betreffenden Ungemach widerfuhr. Peuckert weiter: „Wenn es Familienbäume gab, sollte vermöge naturgemäßer Erweiterung nicht auch die Dorfschaft in einem Baume ein Gegenbild und Symbol ihres Lebens, ihren Schutzgeist gesucht haben? Es bedarf dieser hypothetischen Frage nicht. Wir können schrittweis verfolgen, wie der Schicksalsbaum einer Herrscherfamilie und der des Landes ineinander übergehen. [...] Das Kennzeichnende an diesen Schicksalsbäumen ist, daß das Schicksal des Landes dem des Baumes parallel geht. Dorrt der Baum, dann ist das Land, seine Freiheit, sein Glück dahin. Ein Wiederausgrünen des Baumes zeigt die heraufziehende Freiheit des Landes an. Siehe auch ‚dürrer Baum‘. So bezeugen Bäume auch Anteil am geistlichen Geschick ihres Landes.
Da das Schicksal eines Landes häufig durch eine Schlacht entschieden wird, begreift sich das Ineinanderverfließen von Schicksals- und Schlachtenbaum.“
(Vgl. die Sage von der Schlacht am Birkenbaum.)

Im Einklang damit verbindet Hingerl Deutschlands Schicksal mit der wegen ihres Alters überregional bekannten Linde in Staffelstein:

Alte Linde bei der heil’gen Klamm,
Ehrfurchtsvoll betast’ ich deinen Stamm:
Karl den Großen hast du schon gesehn,
Wann der Größte kommt, wirst du noch stehn.

Dreißig Ellen mißt dein grauer Saum
Aller deutschen Lande ältster Baum
Kriege, Hunger schautest, Seuchennot
Neues Leben wieder, neuen Tod.

Schon seit langer Zeit dein Stamm ist hohl,
Roß und Reiter bargest einst du wohl,
Bis die Kluft dir deckte milde Hand,
Breiten Reif um deine Stirne wand.

Bild und Buch nicht schildern deine Kron’
Alle Aeste hast verloren schon
Bis zum letzten Paar, das mächtig zweigt,
Blätterfreudig in die Lüfte steigt.

Und in der letzten Strophe den Bogen zur trotz all dem deutschen Lande widerfahrenen Ungemach noch in ein paar Ästen fruchtbaren Linde schließend:

Dieses kündet deutschem Mann und Kind,
Leidend mit dem Land die alte Lind’
Daß der Hochmut mach’ das Maß nicht voll,
Der Gerechte nicht verzweifeln soll.

Im Gegensatz zu 1920 ist die Linde inzwischen übrigens (möglicherweise tatsächlich in Allegorie zu Deutschland) komplett abgestorben und wurde abgerissen. Ein toter Rest läßt sich im örtlichen Heimatmuseum besichtigen.

Gruß
Taurec

--
„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh’ zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


Weltenwende


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