@Oblomow - Was Nietzsche, Crowley und Paulus eint

Phoenix5, Samstag, 17.03.2018, 13:14 (vor 2229 Tagen)6776 Views
bearbeitet von unbekannt, Samstag, 17.03.2018, 14:09

Hallo Oblomow!

Bezugnehmend auf deine Frage hier

Es ist schwierig bei diesem riesigen Thema einen kohärenten Text zu schreiben, wenn dieser nicht längemäßig ausufern soll. Darum schreibe ich einfach mal drauf los.

Dass sich die Welt nach der Hegelianischen Dialektik (These – Antithese – Synthese) selbst vorwärtstreibt, ist in der Esoterik und im Okkultismus schon immer Thema gewesen. Das ist die heilige Zahl 3, die man eben auch auf die Menschheitszyklen übertragen hat. Interessant ist, dass sich diese Sichtweise sowohl bei religiösen Mystikern, als auch bei jenen nachweisen lässt, denen man schwarzmagisches Denken und entsprechende Praktiken nachsagt. Je länger ich mich mit dem Thema beschäftigt habe, desto stärker wurde mir klar, dass beide Wege das gleiche Ziel vor Augen haben. Der große Unterschied ist bloß, dass religiöse Mystiker, die Einheit mit Gott betonen*,

*(z.B. die Menschheit bildet den „Corpus Christi“, d.h. jeder vollständige Mensch wird zu einem Glied in einem riesigen Ganzen, so dass ein Rädchen ins andere greift. Überträgt man diesen Gedanken weg von der religiösen Ebene, auf die weltliche (luziferische), ergeben sich übrigens interessante ferne Zukunftsszenarien, beispielsweise könnte die Menschheit zu einem riesigen High-Tech-Organismus unter Aufgabe der Individualität verschmelzen. Vor allem vor dem Hintergrund der rasanten Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz, die zum organisierenden und strukturierenden Gehirn dieses Gebildes werden könnte. Man lese den grandiosen Text von @Ostfriese)

während die andere Seite den Menschen zum Gott werden lässt (d.h. als willensstarkes Individuum ohne Ego – das dritte Zeitalter betont stets das Paradoxe; die Verschmelzung der Gegensätze). Bei Aleister Crowley ist das dieses oft missverstandene „Tu was du willst, ist das Gesetz“ – Credo. Dabei ging es nicht um hemmungslose Ego-Befriedigung, sondern darum, den kosmischen Willen mit dem individuellen Willen in Einklang zu bringen, d.h. zu werden, wer man ist (ein Satz, der zwar auf den griechischen Dichter Pindar zurückgeht, aber von Nietzsche populär gemacht wurde; siehe Untertitel „Ecce Homo“). Die gesamte Passage aus Crowleys „Liber Al vel Legis“ lautet übrigens: Tu was du willst, ist das Gesetz. Liebe ist das Gesetz, Liebe unter Willen.“

Wir haben es hier im Prinzip bloß mit zwei Gefühlsebenen zu tun – jener, die sich gern verbindet und Teil eines Ganzen wird und jener, die trennt, um selbst das Ganze zu werden. Diese beiden Prinzipien durchziehen die gesamte Menschheitsgeschichte (und machen offenbar auch vorm dritten Zeitalter keinen Halt) und lassen sich nirgendwo aussondern. Selbst die Gnostiker teilten sich auf in jene, die ein Teil Gottes werden wollten und das Weltliche ablehnten und Splittergruppen rund um die sogenannten libertinistischen Gnostiker (auch Sperma-Gnostiker genannt), die das Individuum betonten und das Weltliche genossen. Und beide haben sich auf Christus berufen, wenngleich man heute Letztere eher einem luziferischen Kult zuordnen würde. In dieser Linie stehen eben auch Okkultisten rund um den Golden Dawn, den O.T.O, Thelema usw.
Und auf weltlicher Ebene ist das ohnehin allerorts sichtbar: Allein beim Kampf zwischen Kapitalismus (Individualität) und Sozialismus (Kollektivismus), oder weiter gefasst: Beim Kampf zwischen Gesellschaft/Staat und Gemeinschaft/Stamm bzw. noch höher gefasst: Zwischen weltlicher (individualistisch, luziferisch) und spiritueller (kollektivistisch, göttlich) Sphäre.

Immer steht am Anfang ein unbewusstes Paradies, das sich in eine polare Welt teilt, um am Ende in ein bewusstes Paradies (individuell oder kollektiv) zu münden. Diese Zyklen hat man sowohl auf die weltliche Ebene, wie auch auf die geistige Ebene übertragen. So startet man im Tarot als unbewusster Narr (das Kind), durchläuft einen großen Zyklus des Erwachsenwerdens, der schließlich im göttlichen Urvertrauen (Amor fati – wie auch bei Nietzsche, dort aber ist der Mensch Gott) mündet und so das dritte Stadium einleitet: Den bewussten oder gekrönten Narren. Gleiches gilt in der Alchemie, in der man das Leben als einen Prozess der Purifikation über mehrere Stufen (je nach Modell z.B. von der Materia prima zur „Weißung“ und schließlich zur „Rötung“ = Vereinigung mit Gott) begreift, der durch die Verschmelzung der Gegensätze (je nach Modell: Schwefel [Feuer, Luft, männlich] und Quecksilber [Erde, Wasser, weiblich]) schließlich zum Stein der Weisen bzw. Gold bzw. zur Einheit mit Gott führt. Ähnliche Zyklen gibt es auch in der Astrologie, wobei sie sich hier nicht auf die Zahl 3 herunterbrechen lassen (vom Stierzeitalter der Begründung der Kultur über das Widder-Zeitalter als Epoche des [jüdischen] Gesetzes, zum christlichen Fische-Zeitalter hin zum Wassermannzeitalter, dem Zeitalter der Paradoxie und Gegensatzverschmelzung).

Was das nun alles mit Nietzsche zu tun hat? Mir war nicht klar, dass Nietzsche diese Dreiteilung ebenfalls vornahm. Das demütige Hinnehmen der Gaben, aber auch Launen von Mutter Natur (Matriarchat), entspricht bei Nietzsche dem Kamel und bei Crowley dem Isis-Zeitalter. Übrigens ist mir erst durch deinen link klar geworden, warum das Kamel im Crowley-Tarot öfter vorkommt – ein Symbol, mit dem ich bis dato gar nichts anfangen konnte. Das Zeitalter, in dem der Mensch das Zepter selbst in die Hand nimmt und die große Mutter in die Unterwelt verbannt (Patriarchat) entspricht bei Nietzsche dem Löwen und bei Crowley dem Osiris-Zeitalter und schließlich (nach kriegerischen Zeiten, die sowohl Nietzsche, wie auch Crowley prophezeiten...entspricht in den Mythen dem Fall der Sonnensöhne durch Hochmut) das Zeitalter des Horus (Wassermann in der Astrologie), das bei Crowley auch das Zeitalter des Kindes genannt – genauso wie bei Nietzsche (das Kind) und genauso wie im Tarot (der bewusste Narr als Karte 22).

Übrigens findet sich Derartiges nicht erst in der esoterischen Tradition. Ich habe erst vor Kurzem erneut das Neue Testament gelesen und unabhängig davon ob man Paulus für einen Scharlatan hält (wofür doch einiges spricht) oder nicht: Er hat einen grandiosen Mythos geschaffen, der in der menschlichen Geschichte seinesgleichen sucht und was mich besonders überraschte, weil das anscheinend noch nirgendwo gesondert herausgehoben wurde: Er nahm eine ähnliche Einteilung vor. Ich hab mir die genaue Stelle nicht notiert, aber in einem Römer-Brief (und noch einmal kurz angedeutet in einem Korinther-Brief) schreibt er ganz klar (von mir sinngemäß wiedergegeben), dass wir das Gesetz hassten, weil es uns vom Sündigen abhielt, dass dieses aber notwendig war um zu Reife und Demut (d.h. zur Bewusstheit) zu gelangen. Er sah das jüdische Gesetz als Erziehungsmaßnahme Gottes (dessen Pendant übrigens der Staat und das weltliche Gesetz ist, das im dritten Zeitalter ebenso obsolet wird), damit wir uns vom tierischen Dasein abnabeln konnten. Und erst jetzt, wo wir so bewusst waren, konnten wir die Lehre Christi von der Liebe begreifen. Das Gesetz wurde den Menschen gegeben, um Kontrolle über ihr Dasein zu erlangen und mit Christi beginnt das große Loslassen vom Gesetz und das Urvertrauen in Gott/Christus (bei Nietzsche ist es das Urvertrauen des Menschen in sich und durch sich selbst = Übermensch). C.G. Jung interpretiert das übrigens ähnlich. Er, den ich als letzten großen christlichen Mystiker sehe (wenngleich er sich nie als Christ bezeichnet hat), sieht in Christus den vollständigen Menschen, der sein Schicksal annimmt (Amor fati!) und es nicht mehr bekämpft und Nietzsche sah das in dem von mir zitierten Text aus Ecce Nihil ähnlich:

„Die Notstände aller Art überhaupt als Einwand, als etwas, das man abschaffen muß, betrachten, ist die niaiserie par excellence, ins große gerechnet, ein wahres Unheil in seinen Folgen, ein Schicksal von Dummheit –, beinahe so dumm, als es der Wille wäre, das schlechte Wetter abzuschaffen...“

Insofern sehe ich Nietzsches Kampfphrase „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ als eine weitere Spielart des „Individualismus vs. Kollektivismus“-Problems bzw. des großen JA-Sagens (Nietzsche) vs. des großen NEIN-Sagens (Schopenhauer, Buddha). Auf einer höheren Ebene sind sie eins.


Literatur-Empfehlung:

Einstieg in die klassische Esoterik: Das letzte Werk des leider viel zu früh verstorbenen Hajo Banzhaf: "Zwischen Himmel und Erde"

Vertiefung und Strukturierung des psychoanalytischen Mythos´ von C.G. Jung durch den ebenfalls viel zu früh verstorbenen Jung-Schüler Erich Neumann: "Ursprungsgeschichte des Bewusstseins."

Beste Grüße
Phoenix5


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