Stiefel an, Stiefel aus

Weiner, Freitag, 16.03.2018, 23:34 (vor 2203 Tagen) @ Nico3319 Views

Vielleicht ziehst
du dir den Stiefel, welchen du, lieber Weiner, den leider „unfähigen“
aber immerhin „lieben Bürgern“ überstülpst, einfach gleich mit
selber an

Hallo Nico,

natürlich hast Du Recht: man sollte immer bei sich selbst anfangen! Mein erster Stiefel war die CDU: sämtliche Erwartungen und Hoffnungen wurden enttäuscht, dafür lernte ich den internen Parteibetrieb kennen (brauch ich hier nicht erzählen!). Da hab ich mir also diesen Stiefel wieder ausgezogen und nachgedacht. Beim zweiten Male versuchte ich, lokal bzw. regional etwas Neues anzustoßen. Die Erfahrung: Dumpfheit und Trägheit allüberall. Manche(r) wollte gern, aber konnte leider nicht (Familie, ökonomische Zwänge, andere wichtige Interessen). Und diejenigen, die dann doch mitmachten, verfolgten bald eigene Ziele, sei es Werbung für die Firma oder Profilierung einer Neurose. Man kann einen Menschen motivieren, spontane und konkrete Hilfe zu leisten, das Erkennen von Fernzielen aber und die Arbeit für eine abstrakte Gemeinschaft darf man von ihm nicht erwarten. Derartiges wäre zwar manipulativ zu leisten, doch braucht man dazu Ressourcen, wenn es umfangreicher werden soll (gutes Beispiel: einst Berlusconi, neulich Macron). Außerdem wäre es nicht ehrlich. Also habe ich den zweiten Stiefel auch wieder ausgezogen. Aller guten Dinge sind drei, aber die Zeit ist noch nicht reif. Der Mensch kommt aus Gewohnheiten nur heraus, wenn die Not ihn zwingt - und er DANN eine einsehbare Lösung sieht.

Das gilt im Übrigen auch für die "Weltelite" im Westen (Westen ist für mich: Europa, USA und Russland zusammengenommen). Der geht es aktuell blendend gut. Das Gerede von 'Konflikten im tiefen (und hinteren) Staat' betrifft nicht die eigentlich Herrschenden sondern nur den Apparat. Dieser Apparat und jener Teil der Elite, der für ihn arbeitet, ist allerdings am Ende. Man hat dort keinerlei Konzept, um die anstehenden 'echten' Probleme zu lösen. Stattdessen schafft man sich künstlich neue (wie etwa den wiederaufgelegten West-Ost-Konflikt). Und es läuft die Zeit davon. Deswegen wird sie Elite des Westens in großen Teilen, und mitsamt ihren Schlafschafen, untergehen.

Gut vorbereitet ist dagegen der Chineser. Er denkt voraus. Die Verfassungsänderung auf dem Volkskongress ist zwar sehr kritisch - praktisch sind wir, gute hundert Jahre nach dem Ende des Kaiserreiches, ebenda wieder angekommen. Jedoch ist die Amtszeitverlängerung ein bewußter Vorgriff auf die anstehende allgemeine Krise, die von den Entscheidungsträgern in Peking klar gesehen wird. Die VRC ist gut durchtrainiert und aufgestellt. China wird nach dem Zusammenbruch des Westens (USA+Europa+Russland) so dastehen, wie die USA nach dem Ersten Weltkrieg. Im (spezifischen) Moment der Schwäche der USA wird sich die VRC sehr wahrscheinlich auch Taiwan wieder holen (in etwa so, wie es mit Hongkong gelaufen ist). Ferner kauft sich China bereits heute die Stimme Afrikas und manch anderer armer Länder - für einen künftigen Auftritt auf der neuen weltpolitischen Bühne - jenseits der UNO. Die BRICS sind nur ein Vorspiel, eine Fingerübung.

Nochmals zurück zum Ausgangsbeitrag von @Falkenauge: Die Aristokratie des Westens (USA+Europa+Russland) ist erstens keine Aristokratie und zweitens ist sie bereits tot. Es war einst eine bürgerliche Elite in ihrer Weltanschauung sowie eine Vermögens-, dann Industrie- und dann Finanzelite den Ressourcen nach. Weil sie aktuell ausgebrannt ist und kein Konzept für die Zukunft hat, wird ihr das Heft aus der Hand genommen werden. Die Elite in der kommenden Epoche wird sich primär wieder auf den Staatsapparat stützen (Bürokratie und Militär). Und die aktuelle Situation, dass 'Kapitalisten' den Staat beherrschen, wird sich umkehren. Und zwar aus einem ganz schlichten und simplen Grunde: weil der Kapitalismus (in seiner ungebremsten Gier nach kurzfristigem Profit) nicht fähig ist, die aktuellen Probleme zu lösen. Der neue Staat der Zukunft wird sich das 'alte Kapital' holen (bzw. was davon nach den Zerstörungen noch übrig ist), und er wird sich neues Kapital per Kreditschöpfung aufbauen - wann und wo es ihm beliebt. Auch in dieser Hinsicht ist China das Modell, insofern es 'marktwirtschaftliche' und 'kapitalistische' Entwicklungsstränge zulassen, aber durch staatliche Eingriffe wieder beschränken oder auch ergänzen kann, wo immer es notwendig oder zweckdienlich ist. Die oberste Ratio ist Stabiliät, Funktion, Integration. Neuen kreativen Geist sehe ich nicht.

Der (fiktiv bzw. formal) souveräne 'Bürger' aber wird verschwinden, ganz wie es Macron - aus anderer Perspektive und voller Hybris - angekündigt hat.

http://www.voltairenet.org/article197756.html
http://www.voltairenet.org/article197666.html

Es wird stattdessen eine 'Masse' geben, von Individuen zwar, jedoch weitgehend genormten. In guten Zeiten werden diese Individuen je in ihrem privaten Kokon aus Träumen, kulturellen Aufgüssen der Vergangenheit sowie in vertretbarem Wohlstand leben. In schlechten Zeiten werden sie in sklavenähnlichen Verhältnissen sich durchs Leben quälen. Diese Masse wird außerdem das Anzuchtbecken für die Funktionäre des Systems sein. China hat fast 90 Millionen KPCh-Parteimitglieder: das sind mehr, und sie sind aufgeweckter und aktiver als die Bürger der BRD.

Ich will mit meinen Blicken nach China dem 'gelben Forum' keinen Nebensinn unterschummeln, noch möchte ich empfehlen, Mandarin zu lernen. Ich möchte lediglich anregen, den Blick von den toten Hosen eines Herrn Trump oder Putin - einer Frau May, Merkel oder Weidel - dorthin zu wenden, wo die Prototypen der neuen Epoche zusammengeschraubt werden. Es wäre durchaus reizvoll, sich zu überlegen, wie die Äquivalente hier in Europa aussehen mögen. Aber vielleicht ist das noch ein wenig verfrüht.

MfG, Weiner


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