Ja, wir sind Zwerge

Oblomow, Mittwoch, 14.03.2018, 21:45 (vor 2206 Tagen) @ Phoenix55071 Views

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Heraklit war stolz: und wenn es bei einem Philosophen zum Stolz kommt, dann gibt es einen großen Stolz. Sein Wirken weist ihn nie auf ein »Publikum«, auf den Beifall der Massen und den zujauchzenden Chorus der Zeitgenossen hin. Einsam die Straße zu ziehn gehört zum Wesen des Philosophen. Seine Begabung ist die seltenste, in einem gewissen Sinne unnatürlichste, dabei selbst gegen die gleichartigen Begabungen ausschließend und feindselig. Die Mauer seiner Selbstgenugsamkeit muß von Diamant sein, wenn sie nicht zerstört und zerbrochen werden soll, denn alles ist gegen ihn in Bewegung. Seine Reise zur Unsterblichkeit ist beschwerlicher und behinderter als jede andre; und doch kann niemand sicherer glauben als gerade der Philosoph, auf ihr zum Ziele zu kommen – weil er gar nicht weiß, wo er stehen soll, wenn nicht auf den weitausgebreiteten Fittichen aller Zeiten; denn die Nichtachtung des Gegenwärtigen und Augenblicklichen liegt im Wesen der großen philosophischen Natur. Er hat die Wahrheit: mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehn können. Es ist wichtig, von solchen Menschen zu erfahren, daß sie einmal gelebt haben. Nie würde man sich zum Beispiel den Stolz des Heraklit als eine müßige Möglichkeit imaginieren können. An sich scheint jedes Streben nach Erkenntnis, seinem Wesen nach, ewig unbefriedigt und unbefriedigend. Deshalb wird niemand, wenn er nicht durch die Historie belehrt ist, an eine so königliche Selbstachtung und Überzeugtheit, der einzige beglückte Freier der Wahrheit zu sein, glauben mögen. Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie aufsuchen. Auch ein Pythagoras, ein Empedokles behandelten sich selbst mit einer übermenschlichen Schätzung, ja mit fast religiöser Scheu; aber das Band des Mitleidens, an die große Überzeugung von der Seelenwanderung und der Einheit alles Lebendigen geknüpft, führte sie wieder zu den anderen Menschen, zu deren Heil und Errettung hin. Von dem Gefühl der Einsamkeit aber, das den ephesischen Einsiedler des Artemis-Tempels[379] durchdrang, kann man nur in der wildesten Gebirgsöde erstarrend etwas ahnen. Kein übermächtiges Gefühl mitleidiger Erregungen, kein Begehren, helfen, heilen und retten zu wollen, strömt von ihm aus. Er ist ein Gestirn ohne Atmosphäre. Sein Auge, lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn, unmittelbar an die Feste seines Stolzes, schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mitfühlender Brust weichen einer solchen wie aus Erz gegoßnen Larve aus; in einem abgelegnen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter, ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen begreiflicher erscheinen. Unter Menschen war Heraklit als Mensch unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder achtgab, so hat er jedenfalls dabei bedacht, was nie ein Mensch bei solcher Gelegenheit bedacht hat: das Spiel des großen Weltenkindes Zeus. Er brauchte die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnisse; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht gewesen waren, lag ihm nicht. Er sprach mit Geringschätzung von solchen fragenden, sammelnden, kurz »historischen« Menschen. »Mich selbst suchte und erforschte ich«, sagte er von sich, mit einem Worte, durch das man das Erforschen eines Orakels bezeichnet: als ob er der wahre Erfüller und Vollender der delphischen Satzung »erkenne dich selbst« sei und niemand sonst.

Was er aber aus diesem Orakel heraushörte, das hielt er für unsterbliche und ewig deutenswerte Weisheit, von unbegrenzter Wirkung in die Ferne nach dem Vorbild der prophetischen Reden der Sibylle. Es ist genug für die späteste Menschheit: mag sie es nur wie Orakelsprüche sich deuten lassen, was er wie der delphische Gott »weder aussagt noch verbirgt«. Ob es gleich von ihm »ohne Lächeln, Putz und Salbenduft«, vielmehr wie mit »schäumendem Munde« verkündet wird, es muß zu den tausenden Jahren der Zukunft dringen. Denn die Welt braucht ewig die Wahrheit, also braucht sie ewig Heraklit: obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht ihn sein Ruhm an? Der Ruhm bei »immer fortfließenden Sterblichen!«, wie er höhnisch ausruft. Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn, die Unsterblichkeit der Menschheit braucht ihn, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen[380] Heraklit. Das, was er schaute, die Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Notwendigkeit, muß von jetzt ab ewig geschaut werden: er hat von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen.


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Während in jedem Worte Heraklits der Stolz und die Majestät der Wahrheit, aber der in Intuitionen erfaßten, nicht der an der Strickleiter der Logik erkletterten Wahrheit sich ausspricht, während er in sibyllenhafter Verzückung schaut, aber nicht späht, erkennt, aber nicht rechnet: ist ihm in seinem Zeitgenossen Parmenides ein Gegenbild an die Seite gestellt, ebenfalls mit dem Typus eines Propheten der Wahrheit, aber gleichsam aus Eis und nicht aus Feuer geformt, und kaltes, stechendes Licht um sich ausgießend.

Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment – ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters –, dessen Erzeugnis die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eigenes Leben zum Grenzstein, der es in zwei Perioden trennte: zugleich aber zerteilt derselbe Moment das vorsokratische Denken in zwei Hälften, deren erste die anaximandrische, deren zweite geradezu die parmenideische genannt werden mag. Die erste ältere Periode im eignen Philosophieren des Parmenides trägt ebenfalls noch die Signatur Anaximanders; sie brachte ein durchgeführtes philosophisch–physikalisches System als Antwort auf die Fragen Anaximanders hervor. Als ihn später jener eisige Abstraktions-Schauder erfaßte und der einfachste vom Sein und Nichtsein redende Satz von ihm hingestellt wurde, da war unter den vielen, durch ihn der Vernichtung zugeworfnen älteren Lehren auch sein eignes System. Doch scheint er nicht alle väterliche Pietät gegen das kräftige und wohlgestaltete Kind seiner Jugend verloren zu haben, und er half sich, deshalb zu sagen: »Zwar gibt es nur einen richtigen Weg; wenn man aber einmal auf einen andern sich begeben will, so ist meine ältere Ansicht ihrer Güte und Konsequenz nach allein im Recht.« Mit dieser Wendung sich schützend, hat er seinem früheren physikalischen System einen würdigen[381] und ausgedehnten Raum selbst in jenem großen Gedicht über die Natur gegönnt, das eigentlich die neue Einsicht als den einzigen Wegweiser zur Wahrheit proklamieren sollte. Es ist diese väterliche Rücksicht, selbst wenn durch sie ein Irrtum eingeschlichen sein sollte, ein Rest von menschlicher Empfindung bei einer durch logische Starrheit ganz petrifizierten und fast in eine Denkmaschine verwandelten Natur.

Parmenides, dessen persönlicher Umgang mit Anaximander mir nicht unglaublich scheint, dessen Ausgehen von Anaximanders Lehre nicht nur glaublich, sondern evident ist, hatte dasselbe Mißtrauen gegen die vollkommene Trennung einer Welt, die nur ist, und einer Welt, die nur wird, welches auch Heraklit erfaßt und zur Leugnung des Seins überhaupt geführt hatte. Beide suchten einen Ausweg aus jenem Gegenüber und Auseinander einer doppelten Weltordnung. Jener Sprung ins Unbestimmte, Unbestimmbare, durch den Anaximander ein für allemal dem Reiche des Werdens und seinen empirisch gegebenen Qualitäten entflohen war, wurde so selbständig gearteten Köpfen, wie denen Heraklits und Parmenides', nicht leicht; sie suchten erst zu gehen, soweit sie konnten, und behielten sich den Sprung für jene Stelle vor, wo der Fuß nicht mehr Halt findet und man springen muß, um nicht zu fallen. Beide schauten wiederholt eben jene Welt an, die Anaximander so melancholisch verurteilt und als Ort des Frevels und zugleich als Bußstätte für die Ungerechtigkeit des Werdens erklärt hatte. In ihrem Anschauen entdeckte Heraklit, wie wir bereits wissen, welche wunderbare Ordnung, Regelmäßigkeit und Sicherheit in jedem Werden sich offenbart: daraus schloß er, daß das Werden selbst nichts Frevelhaftes und Ungerechtes sein könne. Einen ganz verschiednen Blick tat Parmenides; er verglich die Qualitäten miteinander und glaubte zu finden, daß sie nicht alle gleichartig seien, sondern in zwei Rubriken eingeordnet werden müßten. Verglich er zum Beispiel Licht und Dunkel, so war die zweite Qualität ersichtlich nur die Negation der ersten; und so unterschied er positive und negative Qualitäten, ernsthaft bemüht, jenen Grundgegensatz im ganzen Reiche der Natur wiederzufinden und zu verzeichnen. Seine Methode hierbei war folgende: er nahm ein paar Gegensätze, zum Beispiel leicht und schwer, dünn und dicht, tätig und leidend, und hielt sie an jenen vorbildlichen Gegensatz von Licht und Dunkel: was dem Lichten entsprach,[382] war die positive, was dem Dunklen, die negative Eigenschaft. Nahm er etwa das Schwere und das Leichte, so fiel das Leichte auf die Seite des Lichten, das Schwere auf die Seite des Dunklen: und so galt ihm das Schwere nur als die Negation des Leichten, das Leichte aber als eine positive Eigenschaft. Schon aus dieser Methode ergibt sich eine trotzende, gegen die Einflüsterungen der Sinne verschlossene Befähigung zur abstrakt-logischen Prozedur. Das Schwere scheint sich ja recht eindringlich den Sinnen als positive Qualität darzubieten; das hielt Parmenides nicht ab, es zu einer Negation zu stempeln. Ebenso bezeichnete er die Erde im Gegensatz zum Feuer, das Kalte im Gegensatz zum Warmen, das Dichte im Gegensatz zum Dünnen, das Weibliche im Gegensatz zum Männlichen, das Leidende im Gegensatz zum Tätigen nur als Negationen: so daß vor seinem Blicke sich unsre empirische Welt in zwei getrennte Sphären schied, in die der positiven Eigenschaften – mit einem lichten, feurigen, warmen, leichten, dünnen, tätig-männlichen Charakter – und in die der negativen Eigenschaften. Letztere drücken eigentlich nur den Mangel, die Abwesenheit der anderen, positiven aus; er beschrieb also die Sphäre, in der die positiven Eigenschaften fehlen, als dunkel, erdig, kalt, schwer, dicht und überhaupt als weiblich-passiven Charakters. Statt der Ausdrücke »positiv« und »negativ« gebrauchte er den festen Terminus »seiend« und »nicht-seiend« und war damit zu dem Lehrsatz gekommen, daß, im Widerspruch mit Anaximander, diese unsre Welt selbst etwas Seiendes enthalte: freilich auch etwas Nichtseiendes. Das Seiende soll man nicht außerhalb der Welt und gleichsam über unserem Horizonte suchen; sondern vor uns und überall, in jedem Werden, ist etwas Seiendes enthalten und in Tätigkeit.

Dabei blieb für ihn aber die Aufgabe übrig, die genauere Antwort auf die Frage zu geben: »Was ist das Werden?« – und hier war der Moment, wo er springen mußte, um nicht zu fallen, obwohl vielleicht für solche Naturen, wie die des Parmenides, selbst jedes Springen als Fallen gilt. Genug, wir geraten in den Nebel, in die Mystik von qualitates occultae, und sogar etwas in die Mythologie. Parmenides schaut, wie Heraklit, das allgemeine Werden und Nichtverharren an und kann sich ein Vergehen nur so deuten, daß das Nichtseiende an ihm schuld sein muß. Denn wie sollte das Seiende die Schuld des Vergehens[383] tragen! Ebenso aber muß das Entstehen durch Mithilfe des Nichtseienden zustande kommen: denn das Seiende ist immer da und könnte, von sich aus, nicht erst entstehen und kein Entstehen erklären. Also ist sowohl das Entstehen als das Vergehen durch die negativen Eigenschaften herbeigeführt. Daß aber das Entstehende einen Inhalt hat und daß das Vergehende einen Inhalt verliert, setzt voraus, daß die positiven Eigenschaften – das heißt doch eben jener Inhalt – ebenfalls bei beiden Prozessen beteiligt sind. Kurz, es ergibt sich der Lehrsatz: »Zum Werden ist sowohl das Seiende als das Nichtseiende nötig; wenn sie zusammenwirken, so ergibt sich ein Werden.« Aber wie kommt das Positive und das Negative aneinander? Sollten sie sich nicht, im Gegenteil, ewig fliehen, als Gegensätze, und dadurch jedes Werden unmöglich machen? Hier appelliert Parmenides an eine qualitas occulta, an einen mystischen Hang des Entgegengesetzten, sich zu nähern und sich anzuziehen, und er versinnlicht jenen Gegensatz durch den Namen der Aphrodite und durch das empirisch bekannte Verhältnis des Männlichen und des Weiblichen zueinander. Die Macht der Aphrodite ist es, die das Entgegengesetzte, das Seiende mit dem Nichtseienden, zusammenkuppelt. Eine Begierde führt die sich widerstreitenden und sich hassenden Elemente zusammen: das Resultat ist ein Werden. Wenn die Begierde gesättigt ist, treibt der Haß und der innere Widerstreit das Seiende und das Nichtseiende wieder auseinander – und dann sagt der Mensch: »Das Ding vergeht.« –

Herzlich, heute sowas von müßiggängerisch
Oblomow


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