Christentum

Taurec ⌂, München, Sonntag, 10.12.2017, 00:33 (vor 2323 Tagen) @ Rybezahl4492 Views
bearbeitet von unbekannt, Sonntag, 10.12.2017, 01:02

Hallo!

Das klingt so, als wäre das Christentum ein Unfall der Geschichte.

In seiner abendländischen Ausprägung ist es das womöglich. In der Landschaft, wo es entstand, war das Christentum notwendig und schicksalhaft. Es war die logische Folge aus den dortigen geistigen Voraussetzungen.
Mir kam allerdings noch keine plausible Erklärung unter, warum das Christentum für völlig fremde Völkerschaften bis hin zu den Eskimos oder den Indianern des Südpazifiks eine höhere Bedeutung im Sinne eines Heilsplans haben soll. In den wesentlichen Phasen seiner Ausbreitung wurde es der unterlegenen Partei von den Siegern aufgezwungen. In anderen Bereichen, etwa Japan, verfingen die Versuche nicht. Im Umkehrschluß bedeutet das, daß die Person Jesu über den kulturellen Bereich ihres Erscheinens hinaus wohl keine allzugroße Bedeutung im Weltenplan hat, kein "Sohn Gottes", ohne den man als Volk nicht leben könnte. Ebenso könnte man fragen, warum die Menschen im hintersten Indonesien unbedingt Mohammedaner sein müssen. Ohne die kulturelle Nabelschau, die den eigenen Weltteil und seine Geschichte subjektiv überhöht, bleibt nicht viel an absoluter Bedeutung.

Mir scheint, das Christentum hat mit seiner europäischen Ausprägung überhaupt erst zu dessen Aufstieg geführt. Oder wo ist der Krisenherd zeitlich auszumachen?

Hier ist zu unterscheiden zwischen der ursprünglichen, germanischen Religiosität und den christlichen Inhalten, die sich darüber gelegt haben. Das dekadente spätantike Rom, dessen eigene Religiosität verflacht war und das über Volksaustausch große Mengen nahöstlicher Zuwanderer bekam, war das Einfallstor einer kulturfremden Wüstenreligion nach Europa. Die Germanen, die später als Eroberer kamen, adaptierten das Christentum aus politischem Kalkül und zwangen es ihren Brüdern in ihren Ursprungsgebieten auf.

Im Volksglauben haben sich wesentliche Züge der heidnischen Religion erhalten, wurden aber christlich uminterpretiert (nachdem das Verbot scheiterte). Leicht ist es bei den großen christlichen Feiertagen (Ostern, Pfingsten, Weihnachten) nachzuvollziehen, die ausnahmslos eine germanische Grundlage haben. So lebte das Christentum in Europa lange Zeit von germanischer, faustischer Spiritualität, die sich im Gewande nahöstlicher Motive auszudrücken gezwungen sah. Nachdem auch diese, sich aus natürlicher, im Lande verwurzelter Lebenskraft nährende Spiritualität im Rationalismus der wachsenden Großstädte (beginnend mit der "Aufklärung") nachließ, trat die rational konstruierte Komponente des "politischen" Christentums, welches die Kirche repräsentiert, um so schärfer hervor. Plötzlich sahen sich die "heilige Schrift" und die darauf basierende Theologie einer Kritik und skeptischen Dekonstruktion ausgesetzt, der sie nicht standhalten konnte. Ein rein oder weitestgehend menschliches Werk läßt sich mit den Mitteln, die dem menschlichen Verstand zu Gebote stehen, natürlich leicht wieder zerlegen. Eine breitere, besser verfaßte und volksnähere Glaubensgrundlage mit übernatürlichen Bezügen, die nicht so leicht von der Hand zu weisen sind, wäre weitaus widerstandsfähiger gewesen.
Das Christentum auf Bibelgrundlage, das einer analphabetischen Gemeinde in einem lateinischen Gottesdienst durch Predigten, später im Religionsunterricht beigebracht werden mußte, ist eben keine lebendige Religion, sondern aufgezwungen. Man überschätze nicht die Tatsache, daß wir heute alle die Bibel lesen können, und verwechsle dies mit der Art, wie diese Religion der Mehrzahl unserer Vorfahren erschien. Diese erlebten die seelische Landschaft ihrer ererbten Kultur im Kostüm christlicher Gestalten, ohne selbst je auch nur ein Wörtchen in der Bibel gelesen zu haben. Je zugänglicher die Bibel der Volksmasse wurde, desto mehr war sie als unzweifelhafte Offenbarung und Glaubensgrundlage erledigt.

Das Christentum der Kirche wurde in einer Verfallszeit, nämlich im Imperium Romanum der Spätantike von und für Menschen entworfen, die in ähnlichen geistigen Umständen lebten wie der moderne Mensch in der westlichen Gesellschaft. Es ist nicht organisch aus einer Landschaft gewachsen wie die ursprünglichen Religionen Europas. Letztere integrierte das Christentum in sich, indem es sich der bäuerlichen germanischen Urkultur bemächtigte.
In gewisser Weise läßt sich das Christentum in den Weltstädten des römischen Reiches mit diversen Strömungen vergleichen, derer sich westliche Menschen heute eklektisch bedienen: von Konvertierungen zum Islam, Mode-Buddhisten bis zu Rastafari und Pastafari-Spaghettimonsteranhängern usw., die ihre eigenen Wurzeln verloren haben. All diese Bewegungen haben gemein, daß sie nicht ererbt, sondern erworben sind. Sie sind nicht organisch gewachsen und von den Vorfahren überkommen, sondern rational überlegt, adaptiert und letztlich wie eine bloße Maske vorgespielt. Diese Maske (das Christentum) haben wir übernommen, indem wir in die tote Hülle des römischen Reiches schlüpften. In dieser Maske haben die alten Germanen ihre eigene gewachsene Religiosität an ihre Nachfahren, uns, weitervererbt.

Natürlich gab es auch während des christlichen Zeitalters und auch heute vielfältige Erfahrungen und Bezüge zur jenseitigen Welt, die von der höheren Natur des Menschen zeugen: Schauungen, Hellsehen, Nahtoderfahrungen, Erinnerungen an frühere Leben, Besessenheit und Exorzismen, diverse magische und schamanische Praktiken, die auch tatsächlich funktionieren, Erscheinungen und Kontakte zu jenseitigen Wesen. Diese existieren aber unabhängig von der christlichen Lehre und sind wohl Menschen aller Kulturkreise prinzipiell möglich. Daß auch innerhalb der christlichen Theologie teils Erklärungen hierfür versucht und geliefert werden (teils wie die Reinkarnation aus dogmatischen Erwägungen abgelehnt), spricht allerdings nicht für die Richtigkeit der Glaubensgrundlagen an sich.

Eine wieder andere Angelegenheit sind die Vorgänge um den realen Jesus im Palästina des 1. Jahrhunderts. Dieser lebte tatsächlich in der bäuerlichen Frühzeit einer aufsteigenden Hochkultur. Er trug selbst die Elemente einer über Jahrhunderte gewachsenen semitischen Religiosität in sich, die er auf spezifische Weise in neue Form brachte. Er war die jüdische Antwort auf ein jüdisches, spirituelles Problem, auf einen Konflikt in der jüdischen Seele, der ausgelebt und gelöst werden mußte. Seine Bedeutung ist insofern nicht zu unterschätzen.
Ich meine, daß in einer solchen, in den natürlichen Lebensgrundlagen wurzelnden Kultur echte Kontakte zu höheren Sphären durchaus möglich sind, derer er vielleicht einen darstellt. Schon die Lebensberichte in den vier Evangelien (zuzüglich den Apokryphen) geben aber den historischen Jesus nur noch nebenbei und sehr lückenhaft wieder. Im Kern handelt es sich um die Schöpfung der "magischen" Religiosität des Nahen Ostens, die Jesus in ihre eigene Heilserwartung integrierte und ihm ererbte Kennzeichen und Motive zuschrieb, ihn nicht verfälschen wollend, sondern bestätigend. Damit können wir aber nichts anfangen, weil unser Seelentum nicht in dieser Landschaft geboren ist. Wir sind gänzlich anders geartet und können die seelischen und spirituellen Erschütterungen des Judentums zu jener Zeit allenfalls oberflächlich nachvollziehen. Der Kern der Jesusbotschaft bleibt für uns unverständlich (oder wir sehen einen anderen Kern als eigentlich gemeint war).
Da wir Europäer aufgrund unser immanent historischen Verlanlagung stets nach belastbaren historischen Grundlagen suchen, ist der mystifizierte Jesus des neuen Testaments auf Dauer ein Sargnagel für eine Religion, die sich darauf begründet. Die Frage ist, ob eine Religion, deren Fundament nicht in einer historischen Person liegt, für uns nicht günstiger wäre.

Allgemeingültige Sätze wie die Jesusvariante des karmischen Gesetzes oder die Existenz Gottes sind interkulturell übertragbar und wären uns auch ohne das Christentum bekannt, vermutlich sogar in einer reineren, unserem Wesen mehr gemäßen Variante, die nicht so umstritten wäre wie die heutigen Überlegungen etwa zur Reinkarnation, die sowohl gegen die christlichen Dogmen, als auch gegen die naturalistische Wissenschaft ankämpfen müssen, welche als Gegenpunkt zum Christentum Spiritualität gleichsam ablehnt.
Wir hätten womöglich eine Philosophie entwickelt, die das vollkommene, denkerisch ausgebreitete und organische Ergänzungsstück zur Weltesche bildet, dabei sich aber nicht gegen die Dogmen der vermeintlich eigenen Religion behaupten muß. Alles wäre "aus einem Guß" und würde bestätigen, was die letzten 40 Generationen geglaubt hätten, statt es zunächst abzuwickeln und eine Alternative konstruieren zu müssen, der die kollektive Durchschlagskraft fehlt.

Gruß
Taurec

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„Was auch draus werde – steh’ zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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