Selbstzerstörung der Einzelnen ist der Preis für den Zeitgewinn des ganzen ZMS

Silke, Samstag, 09.12.2017, 04:04 (vor 2331 Tagen) @ Ostfriese2274 Views

Lieber Ostfriese,

ich mag Baudrillard, denke aber, dass seine Interpretationen oft mangels Kenntnis des Debitismus Platzhalter für leere Flecken sind.
Das ist aber ok, da viele seiner Gedanken wiederum Debitisten weiterhelfen.

ich erlaube mir, auf das Buch Kool Killer oder Der Aufstand der
Zeichen
von Jean Baudrillard hinzuweisen.

Das sollte erlaubt sein.

... und findet Grafitti vielleicht auch
noch hip.


Er hat die Bedeutung der Graffiti-Zeichen in der Stadt New York Anfang der
1970er Jahre untersucht. Für ihn ist die Stadt immer weniger durch
Produktion, als vielmehr durch Zeichen des Konsums, der Medien, der Events,
insgesamt der Dienstleistungsökonomie geprägt – durch Zeichen, denen
vermeintlich noch ein Referenzsystem zugrunde liegt.

Städte sind zuvorderst Verwaltungszentren im ZMS, die die Besicherung der Vorfinanzierung des Systems (Besteuerung und Verwaltung der Staatsbürger) sicher stellen. Ein Bürger ohne Wohnsitz, Girokonto, Tel.Nr., andere Anschlüsse und vor allem Steuer-ID ist ein potentieller Staatsfeind und muss einer Verwaltung, einem Einpflegen in die zentralen Datenbanken zugeführt werden - geboren, gemeldet, überwacht, gegängelt, beaufsichtigt, beschnitten, bedroht, sanktioniert, subventioniert, verführt, belogen, seinem Potential beraubt - Teil der ohnmächtigen Masse, die das System stützt und letztlich auch so will, wie es ist.
Graffiti haben wir in der Jugend gemacht, Wasserglasrevolten, Revoluzzer-Träumereien, Jugendliches Auflehnen, menschlich und teils sehr künstlerisch. Erst kürzlich sah ich neben den vielen professionell anmutenden Namenszügen das Wort "Unperfekt" an mehrere Wände gesprayt und war davon berührt.

"Heute ist zwar die Fabrik als Modell der Vergesellschaftung durch das
Kapital nicht verschwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie
ihren Platz ab an die gesamte Stadt als Raum des Codes. Die Matrix des
Urbanen ist nicht mehr die der Realisierung einer Kraft (der Arbeitskraft),
sondern die der Realisierung einer Differenz (der Operation des Zeichens).
Die Metallurgie ist zur Semiurgie geworden." (S. 20)

Das ist gut beschrieben. Beides ist aber nur Mittel zum Zweck.
Im Debitismus geht es ja eben nicht zuerst um Arbeitskraft und Produktion sondern um Zeitgewinn eines zum Untergang verurteilten Systems, also um:
1. Die Simulation der Überbrückung all der sich summierenden Vorfinanzierungslücken (systemische und private) und
2. Das immer umfassendere Stellen von Nachschuldnern um die Altschuldner aus hoffnungsloser Lage, Bankrottgefahr und Insolvenz zu retten zum Preis von
3. Zunahme des Potentialraubes bei jedem einzelnen und global und
4. immer stärkeres Hineinreißen von räumlich (weit, weit weg) und zeitlich (Kinder, Enkel, Urenkel) Außenstehenden sowie gewaltigen Ressourcen in das Gravitationszentrum des ZMS.
Betroffen sind dabei denken, fühlen, wünschen, handeln, Meme, Memplexe, Veränderungen von Genetik, Epigenetik und morphogenetischen Felder, u.a..
Ebenso sind kurzzeitiges, taktisches und strategisches Planen und Agieren von Einzelnen, Gruppen und Massen von Individualisten sowie der Familienclans, Interessenverbände und Netzwerke der Herrschaft der Symbole, der Bilder, der Worte - der Ausrichtung durch das ZMS für nur ein Ziel untergeordnet - Erhalt des ZMS, obwohl es seit ein paar tausend Jahren mit formeller Gewalt gestartet ist und all seine Bemächtigungen der Individuen zu erlaubten und erwünschten Aktivitäten und seiner Stringenz und Unerbittlichkeit in der Ausrichtung zum zentralen Gravitationszentrum hin unterliegen.

Wir leben in einem System der Herrschaft der Zeichen im endgültigen
Übergang von der 'Imitation' über die 'Produktion' zur 'Simulation'.

Ein schönes Beispiel ist Berlin – von der Industrie- zur „Dienstleistungs“- und Regierungs/Verwaltungs-Stadt

Mit
dieser neuen Herrschaft der Zeichen geht die Tatsache einher, dass die
'Bedeutung' eines Zeichens nur in Beziehung zu anderen Zeichen definiert
werden kann.

...bis sich diejenigen Zeichen mit frei flottierender Bedeutung und ohne einen zugrunde liegenden Realbezug so stark häufen, dass sie die von der Realität ableitbaren Zeichen verdrängen und übertrumpfen...einfach einmal einer Person des öffentlichen Lebens ein Mikrofon ins Hesicht halten...blah, blahblah, blahblahblah, blah.
Rote, blutrote, grüne, gelbe, schwarze und braune Fähnchen im Einheitswind stellen für uns Inhalte dar, die genauer betrachtet sinnlos sind, da politische Gruppen keine Relevanz bezüglich der Realität haben.

Das inhaltlich gegenstandslose Graffiti ist eine Revolte gegen diese
ökonomische Form der Stadt. Sie sind leere Signifikanten als Widerstand
gegen die scheinbar 'ökonomisch von Sinn erfüllten' Zeichen der heutigen
auf den Code ausgerichteten Stadt.

Ja eine Revolte.
Aber ich denke nicht, dass sie inhaltlich gegenstandslos sind.
Die sind nur zwecklos in Bezug auf das ZMS und stoßen darum die unbewusst/ bewusst auf das ZMS ausgerichtete Masse der Individuen ab (da wird von Verschmutzung, Vandalismus, Eigentumsdelikten usw. geklagt obwohl jede Werbung und andere mediale Belästigung die mich fast wehrlos über alle meine Sinne trifft auch eine Körperverletzung im weitesten Sinne darstellt).

Baudrillard schreibt (S.24): "…, deren
Inhalt – und das ist ein wichtiges, in seinem Umfang neues
Charakteristikum – weder politisch noch pornographisch ist: es sind bloß
Namen, oft aus Underground-Comics bezogene Spitznamen: …"

Es ist Widerstand gegen das ZMS mit seiner allumfassenden Ausrichtung der ohnmächtigen Individuen, in dem Zeichen wie €, $ oder @ und Marken wie Wolfspfotenabdrücke und ein / mit einem Quadrat drum herum auf einer von vielen Kathedralen der Zeichen Macht entfalten.

https://www.tichyseinblick.de/meinungen/leser-kommentare-zur-staatsverwahrlosung/

Ich erinnere an einen früheren Beitrag. Georges Bataille hat schon in
Der verfemte Teil das Prinzip der 'unproduktiven Verausgabung'
formuliert, das viel umfassender ist als das knausrige Gesetz der
Produktion und des Profits, das wir als Kennzeichen einer wohlgeordneten
Ökonomie betrachten. Nach Bataille entsteht dort, wo produziert wird, auch
Überschuss, der dazu drängt, verausgabt, verschwendet, ja zerstört zu
werden – "willentlich oder nicht, in glorioser oder katastrophischer
Form". Das kann in einem rauschhaften Fest oder in dessen Negation – dem
bisweilen nicht weniger rauschhaften Krieg – stattfinden: Siehe in der
Ostukraine oder im islamischen Halbbogen.

Debitistisch betrachtet ist vorrangiger Zweck von durch konkurrierende Unternehmer per Investition und Risikobereitschaft angeschobener Produktion und das Anbieten von Produkten zum Verkauf das stellen von Nachschuldnern (die sich per "kaufen" verschulden, und mit GZ bezahlen, das sie auch erst per Leistungserbringung/ Verschuldung erwirtschaften müssen, und das gleichzeitig als einziges StZM akzeptiert wird um Sanktionen bei ausbleibender Steuerzahlung seitens der Legislative/Judikative/Exekutive zu entgehen.
Die Konsumprodukte kann man sich schenken. Man könnte auch einfach Rauben.
Dann wäre das ganze System aber zu durchsichtig und die Begeisterung der Beteiligten würde sich in Grenzen halten.
Sie hoffen eben lieber... auf bessere Regierungen, auf gerechteres Recht, auf erträglicher Zeiten, auf grünen Unfug und nachhaltiges Wirtschaften, auf Transhumanismus, auf Götter und Wunder - dabei geht dieser Zyklus seinem Ende entgegen, weil bei der bereits erreichten Komplexität und AUfschuldung jeder Tag ohne globale Katastrophe ein kleines Wunder ist...365 Tage im Jahr - einschließlich Weihnachten.
Ich wünsche allen eine besinnliche Zeit.

Die Müllberge, der Dreck, die Verausgabung der Kräfte und der Werte
(Polterabend in Meißen oder 'Wilhelmine' in Rastatt) und das
selbstzerstörerische Leben der Medienstars (Amy Winehouse) als Gesten der
Verschwendung sind auch für Baudrillard Zeichen des Reichtums unserer
Gesellschaft, um uns unserer eigenen Vitalität und Kraft zu vergewissern.

Kern sind die immer weiter und stärker notwendige /Vor)finanzierung des ZMS per allumfassender Aufschuldung (finis - Grenzen ausweiten) und deren Besicherung (Steuern) und Absicherung derselben (Redistribution), damit das ZMS weiter wachsen kann, um nicht zu implodieren wenn die Simulation der Überbrückung der Vorfinanzierungslücken misslingt weil das Wachstum sich verlangsamt.
Arbeit und Konsum sind Abfallprodukte dieses eisernen Gesetzes des Debitismus (…eine Macht muss Abgaben erheben, weil sie Vorfinanzierungskosten hatte...)
Wahre Vitalität und Kraft beweist sich in der Fähigkeit autark und autonom über Generationen hinweg Subsistenz betreiben zu können, ohne die Umwelt zu überlasten und sich dabei gegen die periodisch, zyklisch und singulär teils katastrophal schwankenden Einflüsse der Umwelt wehren zu können, indem die Urschulden für einen ausreichend großen Teil der Gemeinschaft mit ausreichender Reproduktionsfähigkeit - vom Säugling mit all seinen Zukunftschancen bis zum erfahrenen und weisen Alten - bedienbar gehalten werden können mit breit gestreutem Wissen und Können, Variabilität der Fertigkeiten und Gemeinschaftlichkeit im Denken, Fühlen und Handeln ohne machtvolle Zentralinstanzen sondern mit umfassen verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gemeinschaft, die Zentralisierungsversuche aktiv unterbinden.

Auf Seite 64 seines Buches Die Konsumgesellschaft, Ihre Mythen, ihre
Strukturen
ist zu lesen:

"Alle Gesellschaften haben seit jeher verschwendet, vergeudet, verausgabt
und über das unbedingt Notwendige hinaus konsumiert – aus dem einfachen
Grund, dass sich das Individuum wie die Gesellschaft im Verbrauch eines
Überflusses, von etwas Überflüssigem nicht nur als existent, sondern als
lebendig erleben."

Es ist eine Scheinbefriedigung, die Bedürfnisse nicht bedient, Erwartungen nicht erfüllt und Hoffnungen enttäuscht.
Gesellschaften unterliegen, einmal der Entsegmentarisierung aufgrund äußerer oder innerer Umstände unterworfen, wegen der dadurch entstandenen ZMS im Zeitablauf immer mehr dem Aufschuldungs- und damit Vergeudungszwang bis sie in Kriegen untergehen oder per Fission/Fusion Extrazeit auf Kosten von zusätzlichen Ressourcen gewinnen.
Die von @Falkenauge verfluchte "geplante Obsolenz" ist gegenüber der psychologischen und systemischen Obsolenz (Produzenten haben systemisch bedingt weder Zeit noch Ressourcen voll ausgereifte Produkte auf den Markt zu bringen. Das sind alle nur noch Betaversionen und der Käufer ist Tester. Gute Beispiele hierfür sind Auto- und Maschinenproduktion, Infrastrukturschaffung (Telefon analog, ISDN, DSL, ADSL, VDSL, Glasfaser usw., Datenverarbeitungs- und Kommunikationsmarkt. Die induzierten und aufgesetzten Bedürfnisse steigen exponentiell um konkurrenzfähig in der Arbeitswelt und leidlich effektiv bei der Simulation von natürlicher Bedürfnisbefriedigung mithalten zu können (Elektrobike bis Haushalts- oder gar Pflegeroboter, Alexa, Watson, Digitalisierung, Vercomputerisierung und beginnende Blockchain-Technologie)
Nur egalitäre Gemeinschaften können diesen Teufelskreis von Vorfinanzierung, Aufschuldung und Nachschuldnerjagd von Anfang an vermeiden, sind dadurch weniger Komplex und weniger könne weniger Potential gegen die Natur aufbringen – sie versuchen eher mit der Natur zu schaffen, und nicht gegen sie.
Versagen ihre segmentären Strukturen (Matri-Patrilinearität, Dorfgemeinschaft, Gada-system, Tantenclan usw.) entstehen die die Macht an sich reißenden, alles und jeden ausrichtenden Zentralinstanzen mit ihrem Erzwingungsstab und die gegenüber gestellte hoffnungvoll ihr Potential opfernde ohnmächtige Masse - eben Gesellschaften in Zentralmachtsystemen.

Wir leben mit dem Dreck, dem Abfall und dem Müll in einer
Überflussgesellschaft des Konsums, weil wir unersättlich sind – und
fühlen wohl in der eigenen Selbstzerstörung.

Das sind Folgen der Debitismusphänomene, die sehr viele Menschen entweder nicht wollen oder nur durch den Druck im ZMS introjiziert bekommen über zerrüttete Patchwork-familien, shitstorm-ende soziale Netzwerke, konkurrenzbeladene Peergroups und abartige Memplexe, die sich durch unsere Gedankenwelt fressen.

Vielleicht ist "Politisch wirklich von Belang [ ] also nur das, was heute
diese Semiokratie, diese Form des Wertgesetzes attackiert" (S.23) und
letztendlich zerstört.

Um dann was?
Die Gemeinschaften sind großflächig zerstört. Unterschiedlichste Machtsysteme, Menschengruppen, Religionen, Abstammungen, xxxisten jeder erdenklichen Strömung kämpfen gegeneinander, junge gegen alte, Frauen gegen Männer, Weiße, Schwarze, gelbe und Rote gegeneinander usw.
Die Gesellschaften werden in Zentralmachtsystemen durch Verteidigung der Handlungs- und Rechtsräume unter unendlichem globalen Leid am Leben erhalten - Insolvenzverschleppung auf Kosten der Peripherie und der noch ins System hereinzerrbaren geistigen und materiellen Ressourcen aus noch nicht erschlossenen Gebieten, Menschen und aus der Zukunft, die wir schon in der Gegenwart verbrauchen müssen um die Schulden der Vergangenheit bedienbar zu halten (gell @elmar).

Gruß â€“ Ostfriese

Schön, dass man immer wieder einmal hier etwas von dir lesen darf.

Liebe Grüße
Silke


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