Selbstzerstörung

Ostfriese, Freitag, 08.12.2017, 14:52 (vor 2302 Tagen) @ DT2915 Views

Hallo DT,

ich erlaube mir, auf das Buch Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen von Jean Baudrillard hinzuweisen.

... und findet Grafitti vielleicht auch
noch hip.

Er hat die Bedeutung der Graffiti-Zeichen in der Stadt New York Anfang der 1970er Jahre untersucht. Für ihn ist die Stadt immer weniger durch Produktion, als vielmehr durch Zeichen des Konsums, der Medien, der Events, insgesamt der Dienstleistungsökonomie geprägt – durch Zeichen, denen vermeintlich noch ein Referenzsystem zugrunde liegt.

"Heute ist zwar die Fabrik als Modell der Vergesellschaftung durch das Kapital nicht verschwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie ihren Platz ab an die gesamte Stadt als Raum des Codes. Die Matrix des Urbanen ist nicht mehr die der Realisierung einer Kraft (der Arbeitskraft), sondern die der Realisierung einer Differenz (der Operation des Zeichens). Die Metallurgie ist zur Semiurgie geworden." (S. 20)

Wir leben in einem System der Herrschaft der Zeichen im endgültigen Übergang von der 'Imitation' über die 'Produktion' zur 'Simulation'. Mit dieser neuen Herrschaft der Zeichen geht die Tatsache einher, dass die 'Bedeutung' eines Zeichens nur in Beziehung zu anderen Zeichen definiert werden kann.

Das inhaltlich gegenstandslose Graffiti ist eine Revolte gegen diese ökonomische Form der Stadt. Sie sind leere Signifikanten als Widerstand gegen die scheinbar 'ökonomisch von Sinn erfüllten' Zeichen der heutigen auf den Code ausgerichteten Stadt. Baudrillard schreibt (S.24): "…, deren Inhalt – und das ist ein wichtiges, in seinem Umfang neues Charakteristikum – weder politisch noch pornographisch ist: es sind bloß Namen, oft aus Underground-Comics bezogene Spitznamen: …"

https://www.tichyseinblick.de/meinungen/leser-kommentare-zur-staatsverwahrlosung/

Ich erinnere an einen früheren Beitrag. Georges Bataille hat schon in Der verfemte Teil das Prinzip der 'unproduktiven Verausgabung' formuliert, das viel umfassender ist als das knausrige Gesetz der Produktion und des Profits, das wir als Kennzeichen einer wohlgeordneten Ökonomie betrachten. Nach Bataille entsteht dort, wo produziert wird, auch Überschuss, der dazu drängt, verausgabt, verschwendet, ja zerstört zu werden – "willentlich oder nicht, in glorioser oder katastrophischer Form". Das kann in einem rauschhaften Fest oder in dessen Negation – dem bisweilen nicht weniger rauschhaften Krieg – stattfinden: Siehe in der Ostukraine oder im islamischen Halbbogen.

Die Müllberge, der Dreck, die Verausgabung der Kräfte und der Werte (Polterabend in Meißen oder 'Wilhelmine' in Rastatt) und das selbstzerstörerische Leben der Medienstars (Amy Winehouse) als Gesten der Verschwendung sind auch für Baudrillard Zeichen des Reichtums unserer Gesellschaft, um uns unserer eigenen Vitalität und Kraft zu vergewissern. Auf Seite 64 seines Buches Die Konsumgesellschaft, Ihre Mythen, ihre Strukturen ist zu lesen:

"Alle Gesellschaften haben seit jeher verschwendet, vergeudet, verausgabt und über das unbedingt Notwendige hinaus konsumiert – aus dem einfachen Grund, dass sich das Individuum wie die Gesellschaft im Verbrauch eines Überflusses, von etwas Überflüssigem nicht nur als existent, sondern als lebendig erleben."

Wir leben mit dem Dreck, dem Abfall und dem Müll in einer Überflussgesellschaft des Konsums, weil wir unersättlich sind – und fühlen wohl in der eigenen Selbstzerstörung.

Vielleicht ist "Politisch wirklich von Belang [ ] also nur das, was heute diese Semiokratie, diese Form des Wertgesetzes attackiert" (S.23) und letztendlich zerstört.

Gruß â€“ Ostfriese


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