Der König ist tot, lang lebe der König, die 3.

Kosh, Freitag, 10.11.2017, 13:58 (vor 2331 Tagen) @ harryinfo2003 Views

Merkel & Co tragen die Demokratie zu Grabe? In unserer Welt hiesse das, sie müssten den Demos zu Grabe tragen, aber das ist eine grundsätzlich andere Diskussion, weil eben das nicht geschieht.

Anmerkungen zum Tocqueville-Link:

- Gleichheit der Bedingungen umschloss für ihn Rechtsgleichheit und das Recht zur freien ökonomischen Betätigung, politische Gleichheit und das gleiche Recht, über Wahlen das Gemeinwesen zu bestimmen, seine Repräsentanten auszusuchen.

Die Gleichheit der Bedingungen ist formales Startkapital. Weil aber diese Voraussetzung nicht von jedem Bürger in Anspruch genommen wird, entstehen unmittelbar mit der Demokratie PRaktische Ungleichheiten. Z.B. gehen nicht alle zur Wahl, ergo regiert nur jener Teil des Demos, der daran teil nimmt und das hat Konsequenzen trotz Gleichheit der Bedingungen.

Die Gleichheit der Bedingungen wird auch jedes Mal strapaziert, sobald Inhalte formal korrekt definiert werden, denn über Inhalte streitet der Homo sapiens seit je.
Z.B. erzeugt jede Repräsentantenwahl Gewinner und Verlierer, ebenso wie jedes Gesetz Gewinner und Verlierer erzeugt. Aber auch ohne klare Verlierer ist Demokratie von Anfang bis Ende inhaltlicher Kompromiss - was dem einen das Ross, ist dem anderen der Reiter. Wenn eine Mehrheit des Demos beschliesst, dass Frauen weniger verdienen sollen, ist zwar das Recht zur freien ökonomischen Betätigung tangiert, aber es wurde demokratisch formal korrekt beschlossen.

Kurz: Auch unter der Bedingung der Gleichheit der Bedingungen wird jeder Bürger vom ersten demokratischen Wimpernschlag verschiedene Wege einschlagen und schafft im gleichen Augenblick demokratisch legitimierte Ungleichheiten. Und das ist nur der Anfang.

- Im Unterschied zur königlichen Zentralgewalt des ancien régime gibt es für eine demokratische Zentralregierung keine Legitimationsprobleme.

Demokratische Systeme lassen üblicherweise ihre LegitimationsPRobleme alle 4 Jahre vom Demos bestätigen, während ein König seine Legitimation relativ ähnlich sieht, wie im berüchtigten Zitat von Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert“, … „Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, …“
Und wenn doch, wurden / werden die eben nach Möglichkeit niedergeschlagen / verhindert - Stichwort Madrid vs Katalonien.
Könige mussten zu allen Zeiten mit Aufständen des Demos rechnen, nur dass die PRaktisch immer von Aspiranten verwaltet wurden, die den König ablösen wollten - auch hier also: Der König ist tot, lang lebe der König.

- Aber entartet das Streben nach Gleichheit, wird es zur Gleichheitssucht, so kann die Freiheit des Bürgers auch in einer Demokratie auf der Strecke bleiben

Die Freiheit ja, die Demokratie nicht, die wird eben nicht zu Grabe getragen wie aus dem Text heraus zu lesen ist. Freiheitsentzug ist eine notwendige Voraussetzung der Gruppenorganisation.
Z.B. entzieht einem der Demos in jedem mir bekannten Gemeinwesen die Freiheit zu morden, weil er diese Freiheit unter Androhung von Strafe demokratisch verbietet.

Zu allen Zeiten bedeutete Freiheit innerhalb eines Gemeinwesens immer die Freiheit, die eine Mehrheit einer Minderheit oder Einzelnen zugesteht, und die ist numal variabel - Freiheitsentzug ist eine Variable. Ob das, was von ihr übrig bleibt, von allen Bürgern als Freiheit empfunden wird, ist ein PRaktisches PRoblem die konkreten Inhalte betreffend, aber kein formal demokratisches.

Dass Freiheit (vermutlich) so gross wie möglich sein müsste, liegt im Interesse der Einzelnen. Zu beobachten ist allerdings, dass ausreichend viele Einzelne in einer Art masochistischem Akt ihre eigene Freiheit einschränken, und diese, beabsichtigt oder nicht, anderen per Mehrheitsakt aufzwingen. Formal besteht aber kein Unterschied zum Mordverbot.

M.a.W. Demokratie ist wie politische Vorgänge insgesamt nichts weiter als von Interessen geleitet. Sinkt das Interesse für Freiheit, schafft das Raum für das Interesse an Unfreiheit. Dieses Vakuum kann wie ökologische Nischen besetzt werden. Das ist es, was man Merkel & Co vorwerfen könnte, dass sie eine Chance wittern und nutzen, wenn da eine MASSE wäre, die diesem Ansinnen widerspricht - Soziale Evolution wie sie leibt und lebt.

- Für Tocqueville liegt im Mehrheitsprinzip, das für die Demokratie als Herrschaftsform allerdings unverzichtbar ist, und einer möglicherweise ausufernde Gleichheitssucht der Bürger die Gefahr des Aufkommens einer neuen Art des Despotismus. Es droht aus seiner Sicht die Tyrannei der Mehrheit.

Womit die demokratische Form auch bei Toqueville trotzdem oder gerade deswegen gewahrt bleibt.

- Durch weitere Zunahme der Befugnisse für die Zentralgewalt im demokratischen Staat befürchtet Tocqueville das Umschlagen des demokratischen Gemeinwesens in eine Demokratie ohne Freiheit …

Wenn Merkel & Co etwas zu Grabe tragen, dann Freiheit und nicht Demokratie, denn Demokratie ist Form, Regierungsform.

- Für Tocqueville ist eine freiheitliche Demokratie … gekennzeichnet … durch den Willen ihrer Bürger, sich in ihr an der gemeinsamen Gestaltung der öffentlichen Dinge zu beteiligen.

Tocquevilles Kennzeichnung gilt für jede Demokratie, nicht nur für eine freiheitliche: Der Wille der Bürger kann diesen nicht genommen werden. Das ist auch nicht nötig, weil Freiwilligkeit zum kritisierten Ergebnis führt.

- Das ist der Dreh- und Angelpunkt im Nachdenken des Theoretikers über die Demokratie: Ihr Funktionieren ist im hohen Maße von der Überzeugung der Menschen im jeweiligen Gemeinwesen abhängig, dass sie sich um die öffentlichen Belange kümmern und dabei Partikularinteressen für das Wohl der Gesamtheit in den Hintergrund treten müssen.

Demokratie ist wie ein Auto. Wird nur geflickt, MACHT es wenig Freude, kümmert man sich hingegen um Wartung und Unterhalt, MACHT es mit hoher Wahrscheinlichkeit, was von ihm erwartet wird.

- Auch wenn er den Begriff so nicht formuliert, spricht Tocqueville hier von der Zivilgesellschaft, die einen Gegenpart bilden sollte zu dem über den Mehrheitswillen gelenkten Staatsapparat.

Und eröffnet damit das Wunschkonzert punkto Demokratie: Welche Inhalte zivilisiert sind und welche nicht. Aber die Zivilgesellschaft ist nunmal weitgehend identisch mit dem Mehrheitswillen und dem Staatsapparat. Minderheiten können geduldet werden, müssen aber nicht, obwohl das im Interesse jedes Einzelnen läge, weil jeder irgendwie-irgendwann-irgendwo in einer Minderheit ist, oft aber im Voraus nicht weiss, wie-wann-wo das sein könnte.

- Was ist, wenn der Großteil der Bürger die Freiheit gar nicht mehr will und sie mehr oder weniger freiwillig aufgibt?

Dann ist das eine demokratische Entscheidung, weil eine Mehrheit entschieden hat. Der Demos kann seine Meinung und seinen Willen dazu jederzeit ändern, die MACHT dazu hatte er immer schon.

- Das kann schließlich zur die Verselbständigung des Staatsapparates führen, der im Namen der Demokratie die Bürger entmündigt.

Die Bürger sind der Staat!
PRovokative Frage: Wer soll sonst der Staat sein, wenn nicht alle seine Bürger? In einem Ameisenhaufen bezeichnet man die Gesamtheit aller Ameisen als Staat, nicht nur die per Botenstoff regierende Königin. Alle Ameisen zusammen sind staatsbildend ebenso wie Beamtenheere und die sie finanzierenden Steuerzahler den Staat definieren und alle Staaten zusammen das globale System Homo sapiens.

Deshalb läuft die Staatskritik am Ziel vorbei, statt dessen für jeden einzelnen Homo sapiens darauf hinaus:

Ich entmündige mich im Namen der Demokratie selbst - lupenrein demokratisch wenn eine Mehrheit das tut.

Es ist seit Menschengedenken eine Frage von Art und Ausmass der Selbst-Entmündigung.

Die Amis auf Kurs
Grüsse
kosh

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PS: Man tut was man kann und man kann was man tut.


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