Etwas Grundsätzliches zu diesen Abschiedsbriefen (passt auch zu @Bröslers Leserzuschrift unten)

Phoenix5, Samstag, 21.10.2017, 00:46 (vor 2351 Tagen) @ Albatros7616 Views
bearbeitet von unbekannt, Samstag, 21.10.2017, 01:09

Lieber Albatros,

wie sich diese Abschiedsbriefe gleichen (könnte auch mit zwei davon aufwarten – gleicher Duktus!). Als ob man seine Partnerin betrogen hätte, die einen dann durch Schweigen und Rückzug bestraft, in der Hoffnung, dass man nur lange genug auf Knien angerutscht kommt und reumütig um Verzeihung bittet.

Was Abschiedsbriefe dieser Art und Bröslers Leserzuschrift (Gender, Sex, soziale Gerechtigkeit) unten gemeinsam haben ist, dass es sich hier nicht um den Beginn einer pc-Dystopie handelt, sondern um deren Ende. Niemand tritt derart aggressiv an der Uni gegen Professoren auf, die sich dem gender-Neusprech verweigern und niemand schreibt Abschiedsbriefe solcherart, wenn derjenige sich nicht zutiefst verunsichert in seinem Weltbild (und Selbstbild!) fühlt. Hier brechen gerade Überzeugungen zusammen und deine Freundin schreit laut: Bitte Joachim, bestätige meine Weltanschauung, damit ich wieder daran glauben kann!

@Taurec hat es schon erklärt: Hier geht es um Herdentierverhalten, konkret um den Gruppenkonsens des Freundeskreises innerhalb eines medial indoktrinierten Massenkollektivs. Bisher war dieser Gruppenkonsens Jahre und Jahrzehnte intakt oder scheinbar intakt, weil Abweichler ihre Meinung für sich behielten und plötzlich wird diese Gruppendynamik labil. Ich kann dir versichern, dass du nicht der Erste in ihrem Freundeskreis bist, der ausschert. Als ich die erste mail erhielt (mit Kündigung der Freundschaft) habe ich mich mal umgehört und erfahren, dass dieser Person schon von anderen ihrer Freunde massiver Gegenwind entgegenschlug und diese sich durch einen Rundumschlag langsam selbst isolierte. Zumindest hier in Österreich konnte man in den letzten zwei Jahren wunderbar beobachten, wie die überwiegende Mehrheit der Tugendwächter sonderbar ruhig wurde und ein kleiner Rest davon aggressiv. Zum Vergleich: Nach dem ersten Ergebnis der Bundespräsidenten-Wahl in Österreich (Mai 2016) mokierte sich der Chef-Stellvertreter meiner alten Firma noch lautstark über die Dummheit der Österreicher (weil der blaue Kandidat fast 50% erreichte) und dabei fiel ihm nicht einmal auf, dass er gerade 50% seiner Belegschaft beleidigt hatte, denn blau wählen ja nur die anderen, aber doch nicht jemand in dieser Firma! Diese Art der Deutungshoheit war all die Jahre ja normal – FPÖ-Wähler waren dumm. Das nahm jeder FPÖ-Wähler stillschweigend hin. Aber zu diesem Zeitpunkt hat sich zum ersten Mal Unmut geregt – zwar nur leise, aber er war da. Man deklarierte sich – nicht dem Chef gegenüber, aber untereinander! Das war ein Novum!

Heute erlebe ich immer öfter, dass sich die pc-Apostel nicht einmal mehr laut auszusprechen trauen, dass sie Grün gewählt haben. Das Image "grün=intellektuell, Akademiker, hip" hat schon ordentlich Lack ab. Das Resultat hat sich sofort in den österreichischen Wahlen widergespiegelt: Die Grünen sind nach mehr als 30 Jahren aus dem Parlament geflogen und überholt wurden sie von einem grünen Abweichler, der mit einer eigenen pragmatischen und einwanderungskritischen Liste angetreten ist. Das nennt man „Dissonanzauflösung“: Man ist nach wie vor ein Guter (ein Grüner), aber die Guten sind halt nach rechts gerückt.

Insofern muss ich dir leider sagen, dass dir keine späte Gerechtigkeit widerfahren wird, denn all diese Schafe werden in den nächsten Jahren in Migrationsfragen nach rechts rücken. Sie werden deine Positionen übernehmen, aber glauben, dass sie diese Überzeugungen schon immer hatten, während du damals ein ganz extremer Nazi warst. So arbeitet eben die menschliche Psyche. Die Kassandras bleiben unerhört und wenn ihre Prognosen mit Punkt und Komma eintreten, dann wussten es ohnehin alle und Kassandra hat wieder mal völlig übertrieben.

Aber eine gute Nachricht hab ich doch für dich: Du erschienst deiner Freundin wohl immer sehr intelligent und deine Meinung war ihr wichtig zur Bestätigung der ihren, die sie wiederum aus den Medien hatte. Deshalb ist sie so enttäuscht. Sie hängt in der Luft, weil sie das Gefühl hat, dass die (medial dargestellte) Mehrheit fehlt, die ihr einbläut, was sie zu glauben hat (vor allem wenn sie dadurch positiv in die Zukunft schauen darf). Du darfst dir also etwas auf deinen Stellenwert einbilden. Mein Tipp: Lass sie ziehen. Wenn du sie aber dennoch halten willst, ohne dein Gesicht zu verlieren, dann manipulier sie. Mit Refraiming und neuer Kontextualisierung (viel mit Emotionen arbeiten!) kriegt man solche Leute in kürzester Zeit auf seine Seite. Alles eine Frage des Marketings und wie man seine Meinung als Wohlfühl-Produkt verkauft. Von den Grünen konnte man in der Vergangenheit lernen, wie man auf diese Weise aus Scheiße Gold macht.

Und zum Abschluss sollte noch jeder etwas Selbstkritik üben, denn dass es überhaupt so weit kommen konnte, dass Germanistik- und Kunst-Studenten die Deutungshoheit über Historiker, Ökonomen und politische Schwergewichte bekamen, ist nicht allein die Schuld der Medien und der Politik, sondern auch unsere. Jeder sollte in den nächsten Monaten mal ganz genau aufpassen, wie oft er bei politischen Gesprächen in den Schweige-Modus kehrt, wie oft er dahingesagte Meinungsfetzen anderer, die er inhaltlich als falsch empfindet, unkommentiert lässt, wie oft er beim Bier mit Freunden im Gasthaus leise spricht, wenn politisch Unkorrektes diskutiert wird. Es wird Zeit, zu sich, seinem Selbst und seinen Maßstäben zu stehen: Nicht auf provokante Art, sondern indem man seine Meinung sachlich in derselben Stimmlage und der gleichen Überzeugung vorträgt, wie man es tut, wenn man über seine Film-Vorlieben oder Hobbies spricht. @Re-aktionär macht es hier vor: www.dasgelbeforum.net/forum_entry.php?id=445553

Und noch eine Sache, die ich vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt ausführlicher darlege: Man kann der Einwanderungspolitik noch so kritisch gegenüberstehen: Lasst euch nicht von den selbsternannten Linksliberalen spalten in Migranten und Autochthone. Verbündet euch mit denen, die nun mal hier sind. Wenn man ein neues "Wir-Gefühl" hervorbringen will, dann braucht man eine breite Phalanx, eine gemeinsame Moral und neue Tabus und da gibt es abseits der Differenzen einen durchaus breiten Konsens mit arbeitenden Migranten, welcher Ethnie auch immer. Die Partei, die diesen Spagat schafft und ein neues Wir-Gefühl im ethnisch pluralistischen Kollektiv induziert, wird Cäsaren gebären.


Beste Grüße
Phoenix5


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